Tagungen:Kongressomanie der Ärzte

Grafik Ärztekongresse

Die größten Ärzte-Kongresse 2014/2015, Auswahl

(Foto: SZ-Grafik: Julia Kraus)

Dieser Tage sollte man sich kein Bein brechen. Radiologen pilgern in Scharen nach Chicago. Medizinertagungen haben inzwischen Ausmaße erreicht, die denen einer Kleinstadt entsprechen. Die größten Kongresse.

Von Kim Björn Becker

Man stelle sich vor, in Schweinfurt gebe es eine Woche lang bloß ein Gesprächsthema: Zahnmedizin. Die knapp 55 000 Einwohner der bayerischen Stadt diskutieren mehrere Tage über moderne Implantate, präsentieren einander neue Techniken der Wurzelbehandlung, fachsimpeln selbst beim Feierabendbier über Aspekte der Kieferchirurgie. Im Minutentakt stellen Bürger die Ergebnisse ihrer Forschung vor und in jedem größeren Gebäude finden durchgehend Veranstaltungen statt, von frühmorgens bis spät am Abend.

So etwas gibt es in diesen Tagen tatsächlich, allerdings nicht im unterfränkischen Schweinfurt, sondern im riesigen Jarvits Center in New York. Noch bis Mittwoch treffen sich dort etwa 55 000 Zahnärzte und -techniker aus etwa 130 Ländern zu einem der größten Medizinerkongresse der Welt, dem Greater New York Dental Meeting. Zur gleichen Zeit kommen in Chicago etwa 54 000 Radiologen zum Kongress der Radiological Society of North America zusammen, um sich noch bis Freitag über Röntgenstrahlen und Computertomografie auszutauschen. Viele kennen sich seit Jahren. Die Grenze zwischen Kongress und Klassentreffen ist stets fließend.

Ärztekongresse haben in den vergangenen Jahren gigantische Dimensionen angenommen: Insbesondere für die amerikanischen Fachverbände ist es ein Leichtes, 10 000 Teilnehmer und mehr zu erreichen. Die Tagungen firmieren oft als Jahrestreffen des entsprechenden Verbands, zugleich stehen sie aber auch Nicht-Mitgliedern aus aller Welt offen. Viele kommen aus Europa angereist, aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Australien. Die regionalen amerikanischen Zahnärzteverbände bringen bei ihren Jahrestagungen in der Regel die meisten Mediziner zusammen: Zusätzlich zu den 55 000, die sich gerade in New York treffen, kommen jedes Jahr etwa 30 000 Zahnmediziner zum Kongress der Chicago Dental Society; weitere 28 000 besuchen die Jahreskonferenz der California Dental Association.

Das alles wäre ohne Geld aus der Industrie nicht möglich. Auf den Tagungen geht es deshalb nicht nur um Vorträge und den wissenschaftlichen Fortschritt, es geht auch um Geld: Konzerne zahlen gut, um auf einer begleitenden Industriemesse präsent zu sein. Darüber hinaus nehmen etliche Ärzte die weiten Reisen zu Fachtagungen nur in Kauf, weil die Pharma-Industrie dafür bezahlt. In Fachkreisen wird gespottet: Wenn ein Kongress 20 000 Teilnehmer hat, verdankt der Veranstalter 19 000 Zusagen der üppigen Einladungspraxis der Industrie.

30 000 Kardiologen treffen sich. Eine Herzensangelegenheit?

Einer der größten Ärztekongresse in Europa ist die Jahrestagung der European Society of Cardiology (ESC), die etwa 30 000 Besucher verzeichnet und bei der jedes Jahr etwa 4000 wissenschaftliche Studien vorgestellt werden. In diesem Jahr fand der Kardiologenkongress in Barcelona statt, im Spätsommer 2015 gastiert er in London. Vor zwei Jahren war München an der Reihe. Doch nicht nur die Größe moderner Kongresse ist beachtlich, sondern auch ihre Anzahl: Dutzende Datenbanken im Internet verzeichnen jeweils mehrere Hundert Fachtagungen pro Jahr, keine von ihnen listet auch nur annähernd alle Veranstaltungen auf, die es gibt. Die deutsche Bundesärztekammer zum Beispiel verweist allein für den Monat Dezember auf 50 Kongresse, bei denen die hier zugelassenen Ärzte Fortbildungspunkte sammeln können.

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