Medizin und Schlaf:Schnarchen unter Aufsicht

Die Medizin hat sich des Schlafs bemächtigt, ihn in seine Bestandteile zerlegt und pathologisiert. Verkabelt, mit Masken und Tabletten sollen die Menschen endlich Ruhe finden.

Werner Bartens

Der Nachtdienst in der Klinik war ruhig verlaufen. Die junge Schwester wollte sich gerade ausruhen, da fiel ihr ein, dass sie etwas vergessen hatte. Sie musste noch in Zimmer sieben, es war zwei Uhr nachts. "Aufwachen, Frau Schneider, sie müssen noch ihr Schlafmittel nehmen." Bei dieser Anekdote handelt es sich nicht um eine urbane Legende, gelegentlich kommt es vor, dass Patienten in Krankenhäusern aus dem Schlaf gerissen werden, um pünktlich ihr Schlafmittel zu nehmen. So steht es schließlich als ärztliche Anweisung in der Kurve. Und in der Klinik muss der Schlaf nun mal medizinisch kontrolliert, überwacht und gegebenenfalls geregelt werden.

Kinderdienst: Warum schnarchen manche Menschen?

Bei starken Schnarchern setzt gelegentlich die Atmung für einen Moment aus. Mediziner nennen das Schlaf-Apnoe; der Betroffene schreckt kurz auf, vergisst das aber wieder und fühlt sich morgens unausgeschlafen. Selten schlägt es auch auf das Herz. Als Therapie verordnen Ärzte das Schlafen mit einer Maske, die Luft in die Nase presst.

(Foto: ddp)

Die Medizin hat sich des Schlafs bemächtigt und einen Jahrtausende lang als selbstverständlich betrachteten Vorgang in seine Bestandteile zerlegt und pathologisiert. Es gab schon immer Kinder, die schlecht in den Schlaf fanden oder die häufig nachts wach wurden. Seit ein paar Jahren spezialisieren sich überall im Land Kinderärzte auf junge Patienten mit Ein- und Durchschlafstörungen.

Die Ärzte Steven Woloshin und Lisa Schwartz von der Dartmouth Medical School haben gezeigt, wie das Restless-Legs-Syndrom als bedrohliche und immer häufiger werdende Krankheit vermarktet wird. Seit 2003 will die Pharmafirma GlaxoSmithKline bei Ärzten wie Laien Aufmerksamkeit für das Leiden wecken, bei dem Patienten keine Ruhe finden, weil ihre Beine zucken oder jucken. Zunächst gab es übertriebene Presseerklärungen von Neurologenkongressen zu Erfolgen mit der Arznei Ropinirol.

Dann informierte die Firma über die "unterschätzte Krankheit, die Amerika nachts wachhält". 2005 ließ die amerikanische Arzneibehörde FDA das Mittel zu. "Seither wurden Millionen ausgegeben, um das Syndrom in das Bewusstsein von Ärzten wie Konsumenten zu bringen", sagt Woloshin. Auch in Deutschland wurden in Fachblättern Schätzungen veröffentlicht, wonach Millionen an den Zappelbeinen leiden würden.

Parallel zu den ruhelosen Beinen in dunklen Stunden machte das Chronische Erschöpfungssyndrom Karriere. Passend zur Schlaflosigkeit in der Nacht gab es nun die medizinisch legitimierte Erschöpfung am Tag. Das Wort "Fatigue", das mehr bedeuten soll als bloße Müdigkeit, kam in Mode. In einer Gesellschaft, die sich freiwillig den Schlaf entzieht, durch Schichtarbeit und Jet-Lag mutwillig physiologische Rhythmen der Menschen sabotiert, fanden diese Ruhestörungen schnell Anerkennung.

Und in der Medizin taten sich neue Forschungsfelder auf, es gab zusätzliche Stellen und mehr Geld. Jede Uniklinik und viele andere Krankenhäuser verfügen heute über hochgerüstete Schlaflabore, in denen verkabelt und unter Videoaufsicht geschlafen wird, um Stoffwechsel, Atemfrequenz, REM-Phasen und Körperemissionen der Probanden in der Hitze der Nacht zu bestimmen.

Regelmäßig finden üppig finanzierte Schlafkongresse statt, manche Ärzte begründen Schlafkampagnen und beraten Bettenhäuser; der freundliche Regensburger Psychologe Jürgen Zulley gilt sogar als "Schlafpapst".

Gleichzeitig wurden die bedrohlichen Folgen des Schlafmangels ausgemalt. Zu wenig Schlaf schwächt Immunabwehr, Wundheilung und Gedächtnis, macht anfällig für verstopfte Gefäße und gestörte Verdauung. Schlafmangel macht angeblich sogar dick - Bücher mit dem absurden Versprechen "Schlank im Schlaf" wurden zu Bestsellern.

Die Diagnose Schlaf-Apnoe hat besonders rasant Karriere gemacht. Bezeichnet werden damit gelegentliche Atemaussetzer, die in seltenen Fällen tatsächlich gefährlich werden können. Bis zu eine Million Menschen sollen in Deutschland betroffen sein.

Würde man alle Bundesbürger im Schlaflabor testen - ein Traum jedes Schlafforschers -, kämen wohl bei jedem beleibten Menschen ab dem 50. Geburtstag Warnhinweise auf Schlaf-Apnoe oder gar manifeste Symptome zum Vorschein. Die Industrie hält zur Vorbeugung und Therapie formschöne Masken bereit, die ins Gesicht geschnallt werden und das kontrollierte Atmen bei leichtem Überdruck in der Nacht ermöglichen sollen - aber ihren Trägern vermutlich erst recht die Nachtruhe rauben.

"Disease Mongering" wird das Erfinden und Verkaufen von Krankheiten im Englischen genannt. Mongering bedeutet Handeln, Schachern und dabei einschüchtern - bei dem im Deutschen üblichen Wort Medikalisierung schwingt dieser Aspekt weniger mit. Um immer mehr Bereiche des körperlichen, psychischen und sozialen Erlebens als kontroll- und therapiebedürftig zu erklären, müssen Risikofaktoren benannt werden.

Eine Schwankung des Befindens wird so schnell zu einem Leiden, das behandelt werden muss. Der Alltag steht unter permanenter Selbst- und Fremdbeobachtung. "Man versucht Leute, denen es gut geht, davon zu überzeugen, dass sie krank sind - oder leicht Kranke, dass sie schwer krank sind", so die Formel der inzwischen verstorbenen Medizinkritikerin Lynn Payer.

Typischerweise werden dazu normale Körpererfahrungen als krankhaft gedeutet - oder die Definition einer Krankheit wird ausgeweitet, bis milde und sogar beschwerdefreie Verläufe als "Prä-Erkrankung" gelten. Die Abgrenzung zwischen krankhaft und tolerabel ist ein Problem vieler Schlafstörungen. Natürlich gibt es Menschen, die so stark an ruhelosen Beinen, Erschöpfung oder Atemstillständen leiden, dass eine Therapie nicht nur hilfreich, sondern nötig ist. Doch die aggressiven Marketingkampagnen für die neuen Leiden am Schlaf haben dazu geführt, dass mittlerweile jeder unrhythmische Schnarcher als krankhaft gilt.

Immerhin steigt der Gebrauch von Schlafmitteln nicht mehr. Offenbar hat sich herumgesprochen, dass "keine der pharmakologischen Hilfen einen physiologischen Schlaf nachahmen oder induzieren kann", wie der Heidelberger Pharmakologe Björn Lemmer schrieb. Dafür kann man als Nebenwirkung müde, vergesslich und abhängig werden. Statt Schlafregeln zu folgen oder ihn herbei zu zwingen, sollte man seine eigenen Zeiten finden. Er müssen ja nicht die Napoleons sein: "Vier Stunden schläft der Mann, fünf die Frau und sechs ein Idiot", sagte der Kaiser.

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