Kabinett der Kalamitäten:Das Leid der ehrlichen Häute

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Öffentliche Aufmerksamkeit führt bei manchen Menschen zum Erröten. (Foto: Illustration: Dalila Keller)

Der Körper ist ein Wunderwerk - und verwundert uns täglich aufs Neue. Er produziert seltsame Geräusche, Gerüche, Ticks, Besessenheiten und Beschwerden. Hält sich aber gerne bedeckt, wenn man fragt: Wo kommt das her? Und vor allem: Wie geht das wieder weg? Eine Serie über Alltags-Misslichkeiten. Teil 11: Erröten

Von Berit Uhlmann

Kurz vor Feierabend kommt der Hammer. Der Chef verlangt für den nächsten Tag einen Vortrag über die Bedeutung der Diskussionskultur für die Gesamtgesprächskultur im Rahmen der Gesamtkonzernleitkultur: "Innovative Diskussionen und so weiter. Sie wissen schon". Wen der Auftrag ereilt, hat allen Grund zu erröten. Sei es vor Verzückung, dass der Chef ihn ausgewählt hat, vor Verärgerung, dass es schon wieder ihn trifft oder weil er keine Ahnung hat, was der Chef meint.

Einigen aber schießt das Blut ins Gesicht, weil sie die Aussicht, vor allen Kollegen stehen zu müssen, in schiere Pein versetzt. Sie leiden am sozialen Erröten. Diese Menschen fürchten in erster Linie die öffentliche Aufmerksamkeit - egal ob positive oder negative.

Solche Kollegen arbeiten die ganze Nacht lang eine picobello Präsentation aus, aber wenn sie dann vor der Kollegenschar stehen, fühlen sie sich unerträglich exponiert. Ihnen wird in grausiger Deutlichkeit bewusst, dass sich ganz dicht unter ihrer Gesichtshaut etliche Adern weiten und Wärme abgeben, die sich dann über ihr Gesicht ausbreitet. Sie spüren, dass purpurne Flecken wie Parasiten über ihren Hals kriechen, und sind zutiefst beschämt darüber, dass ihr Körper die innere Aufruhr für alle sichtbar nach außen kehrt.

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Was die Erröter übersehen: Andere Menschen bewerten die Geschehnisse auf der Haut längst nicht so negativ, wie die Betroffenen glauben. Studien haben zum einen gezeigt, dass die Zeichen der Aufgeregtheit objektiv nicht so auffällig sind, wie befürchtet. Vor allem aber wird die Röte nicht als so hoffnungslos peinlich angesehen. Erröten ist sozial akzeptiert, mehr noch, es hat Vorteile.

Ein roter Kopf stimmt andere Menschen milder gegenüber Missgeschicken und Fehlern. Wer beim Vortrag komplett am Thema vorbei redet, muss nicht mit heftiger Kritik rechnen, solange er nur ein bisschen rot dabei wird. Selbst größere Vergehen wie Unehrlichkeit werden durch die Farbe auf den Wangen schneller verziehen. Denn Vertrauensbruch hin oder her: Wer errötet, wird als grundehrliche Haut angesehen. Man kann das Erröten schließlich nicht vortäuschen.

Frauen scheinen etwas häufiger betroffen, auch sieht man die Farbe bei zarterer Haut deutlicher. Deshalb ist auch dieser Trost aus dem Journal of Cosmetic Dermatology nicht ganz unwesentlich. Ein Blick in die Geschichte zeige, so das Fachblatt: "dass die Röte der Wangen von jeher als ein Zeichen der Schönheit und Jugend gewertet wird".

Und wenn dieser Trost nicht reicht? Zunächst können simple Maßnahmen gegen die Signalfarbe in Erwägung gezogen werden. Selbst ein so renommiertes Fachjournal wie Lancet hält Rollkragen, Schal oder ein deckendes Make up für ein probates Hilfsmittel, Situationen mit sehr viel öffentlicher Aufmerksamkeit zu überstehen.

Längerfristig kann eine Änderung der eigenen Einstellung helfen. Wer sich selbst weniger streng betrachtet, wird das Erröten eher als persönliche Eigenheit denn als Peinlichkeit bewerten. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass mit mehr Gelassenheit auch das öffentliche Erröten nachlässt.

Hinweis: In dieser Serie beschäftigen wir uns mit Alltagsbeschwerden, die in der Regel keine aufwändige Behandlung benötigen. Auf viele Fälle von Erröten trifft das zu. Es gibt jedoch Menschen, bei denen das Erröten zu starker Angst vor sozialen Situationen führt und erheblichen Leidensdruck hervorruft. Ihnen können Verhaltenstherapien, unter Umständen auch Medikamente helfen.

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