Angemessene Pflege für Demenzkranke:Vergessen mit Würde

Was passiert, wenn sich das neuronale Netz, das unsere Erinnerungen speichert, auflöst? Verlieren Demenzkranke am Ende sich selbst - und ihre Würde? Um Letzteres zu verhindern, hilft nur gute Pflege. Und die darf nicht vom Preis abhängen.

Jörn Klare

Ohne Gedächtnis wären wir nichts, sagt der Hirnforscher Eric Kandel. Erst das autobiografische Gedächtnis mache "den Menschen zum Menschen", behauptet der Sozialpsychologe Harald Welzer. Menschen mit Demenz seien "Paradebeispiele für ein auseinanderfallendes Selbst", weiß der Gedächtnisforscher Hans J. Markowitsch. Für Angehörige eines Demenzbetroffenen, wie den Autor dieser Zeilen, sind solche Aussagen angesehener Wissenschaftler und ihr variantenreiches Echo im nichtakademischen Alltag durchaus irritierend.

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Selbst bei kleinerer Besetzung ist "das Musikstück noch komplett erhalten": Dem Münchner Neurologen Hans Förstl zufolge ist das Nervensystem eines Demenzbetroffenen bis zuletzt aktiv.

(Foto: Oliver Killig/dpa)

Die Frage lautet: Was ist ein Mensch ohne Gedächtnis? Was passiert, wenn sich das neuronale Netz, das all unsere Erinnerungen speichert, auflöst? Führt das zu einem Wesen ohne Selbst, eher Teletubby als Mensch? Kann man "sich verlieren", wie es nach einer Notiz Alois Alzheimers seine Patientin Auguste Deter über sich selbst gesagt hatte?

Der Münchner Neurologe und Psychiater Hans Förstl stellt dazu fest, das Nervensystem eines Betroffenen sei bis zuletzt aktiv. Das Erlebnis der Gegenwart setze sich aus der kollektiven Funktion aller noch vitalen Neuronen zusammen. Auch wenn bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz vieles zerstört ist, veranstalteten die restlichen Nervenzellen weiterhin ein "ganz großes Konzert". Und selbst bei kleinerer Besetzung sei, so Förstl, "das Musikstück noch komplett erhalten".

Eine Alternative zu den identitätsabschneidenden Perspektiven auf Menschen mit Demenz bietet Thomas Fuchs. Dem Heidelberger Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie zufolge beruht Identität weniger auf unserem Wissen über uns selbst, als auf den Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens in unserem "Leibgedächtnis" verinnerlicht haben. Das damit verbundene Gefühl von Selbstvertrautheit ist durchaus noch vorhanden, wenn sich die bewussten Erinnerungen an das eigene Leben längst verabschiedet haben.

"Personen" im philosophischen Sinn?

Aber, so die nächste Herausforderung: Sind die Betroffenen damit "Personen" im philosophischen Sinn, wie es immer öfter diskutiert wird? Die Frage klingt abstrakt, doch sie ist existenziell. Es geht um die Würde und die damit verbundenen Grund- und Schutzrechte von etwa 1,3 Millionen Menschen in Deutschland. Das Problem hat in der Philosophie eine lange Geschichte. Für John Locke galten Menschen nur dann als Personen, wenn sie über eine Identität und über ein Bewusstsein für die eigene zeitliche Existenz verfügen. Und spätestens seit Immanuel Kant feststellte, die Würde des Menschen wurzele nicht "in seiner Erschaffung nach Gottes Bild", wie es im Katechismus der katholischen Kirche heißt, sollen bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten entscheiden, wem Würde zukommt und wem nicht.

Es ist diese Reduzierung auf einzelne vermeintlich notwendige Kriterien, die die Idee der Würde für alle Menschen so angreifbar macht. Denn wer wie ein Demenzbetroffener nicht mehr über Vernunft oder Selbstbewusstsein verfügt, wird damit aus dem geschützten Kreis der Würdigen ausgeschlossen.

So begreift der amerikanische Moralphilosoph Jeff McMahan Menschen mit schwerer Demenz als gespenstergleiche "Postpersonen". Und für den australischen Philosophen Peter Singer, der mit dem Würdebegriff ohnehin nicht viel anfangen kann, muss ein Mensch oder Tier über ein Bewusstsein seiner selbst in einem zeitlichen Kontinuum" verfügen, um Person sein zu können. Ansonsten sei es "schwer einzusehen, warum man solche menschlichen Wesen am Leben erhalten sollte, wenn ihr Leben insgesamt elend ist". Die Diskussion um die Freigabe der Forschung mit embryonalen Stammzellen macht deutlich, dass solche Theorien auch in Deutschland an Bedeutung gewinnen.

"Moralische Ansprüche anderer Art"

Auch Michael Quante, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, verlangt nach Kriterien, nach denen entschieden werden soll, welche Menschen in vollem Umfang Anspruch auf Würde und die damit verknüpften Schutzrechte haben. Der Münsteraner Professor spricht von der "Fähigkeit zu einem autonomen, in eigener ethischer Orientierung geführten Leben als menschliche Person", wobei ihm bewusst ist, dass viele Menschen mit Demenz dazu nicht mehr in der Lage sind. Ihren Ausschluss nimmt er in Kauf, spricht ihnen aber "moralische Ansprüche etwas anderer Art" zu. In deutlicher Abgrenzung zu Singer sieht er in der Tötung "menschlicher Nicht-Personen" ohne schwerwiegende Gründe oder gegen ihren eigenen Willen eine Menschenrechtsverletzung.

Selbst wenn es womöglich die Aufgabe der Philosophie ist, solche Diskussionen vorbehaltlos zu führen, drängen die Zweifel an der Würde für alle Menschen Demenzbetroffene noch weiter an den Rand unserer Gesellschaft. Dabei zeigt ein Blick in den Pflegealltag an diesem Rand, wie sehr die Schutzwürdigkeit bedroht ist. Laut den Medizinischen Diensten der Krankenkassen werden etwa 140.000 Pflegebedürftige zumindest zeitweise mit Gittern oder Gurten im Bett oder Rollstuhl festgehalten, obwohl dazu nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs zum Schutz der Menschenwürde eine Entscheidung "aufgrund einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls" vorliegen muss. Doch für eine alternative Betreuung fehlt im Pflegealltag meist die Zeit, wofür in erster Linie der institutionalisierte Personalmangel in den Altenheimen verantwortlich ist. Gerade die Pflege der Menschen mit Demenz ist aufwendig und damit teuer.

Kurzum: Die Frage nach der Menschenwürde im Alltag der Heime entscheidet sich über die Finanzierung der Pflege. Daher ist es für die Gesellschaft auf jeden Fall billiger, diese Frage vorerst nicht weiter zu thematisieren. Sie ist so tabu, wie es die Demenz selbst lange Zeit war.

Immer mehr Demenzbetroffene

Bezeichnend ist der Slogan, mit dem eine der neuerdings staatlich geförderten Pflege-Zusatz-Versicherungen warb: "Würdevoll altern schon ab sieben Euro monatlich". Nicht der Staat, sondern die Privatversicherer sollen nach den neuesten Vorgaben einer teils überforderten, teils ignoranten Politik alternde Menschen schützen. Zumindest diejenigen, die sich einen solchen Schutz leisten können. Und auch nur dann, wenn die Kalkulationen der Versicherer aufgehen.

Aus einer ohnehin schon schwierigen Situation altern wir einer gigantischen Herausforderung entgegen. Die Demografen sprechen von einer Verdopplung der Zahl der Demenzbetroffenen innerhalb der nächsten vierzig Jahre, bei einer insgesamt schrumpfenden Bevölkerung. Eine Impfung oder dergleichen ist nicht in Sicht. Vielmehr bekommt nach Ansicht zahlreicher Experten jeder Mensch eine Demenz, wenn er nur alt genug wird.

Dabei ist für die allermeisten Menschen ein Leben mit Demenz ein Horrorszenario - obwohl die Betroffenen selbst, so belegen es immer mehr Studien, ihre eigene Situation weitaus positiver erleben, als Außenstehende dies tun. Ja, sogar Glück und Zufriedenheit sind möglich. Die Voraussetzung ist eine gute Pflege. Eine Pflege, die jenseits der täglich praktizierten Selbstausbeutung bei der professionellen und familiären Versorgung eben ihren Preis hat. Ein Preis, den wir zahlen müssen.

Der Autor ist Publizist. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Was bin ich wert? Eine Preisermittlung" (Berlin 2010).

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