Stühle:Eine Frage der Haltung

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Der Stuhl war anfangs ein Herrschersitz und ein Machtsymbol. Heute ist klar: Sitzen darf jeder. Obwohl es vielleicht mehr Stühle als Menschen gibt, denken sich Designer immer noch neue Modelle aus.

Von Oliver Herwig

Fünf Stunden und 32 Minuten. Tag für Tag. Das sagt eine aktuelle Statistik über uns Sitzenbleiber. Etwa zwei Drittel der Arbeitszeit ist der Stuhl so etwas wie die gefederte Achse, um die sich das Büroleben dreht. Wir wippen und rutschen, lümmeln und fläzen und kommen doch nicht vom Fleck. Der Stuhl hat uns im Griff wie die Tastatur. Er diszipliniert den Nomaden in uns und verwandelt ihn in einen braven Mitarbeiter.

Kaum ein Material haben Designer ausgelassen, auch keine Geschmacklosigkeit

Auch daheim ist er nicht wegzudenken. Der Stuhl hat als Standard-Sitzgelegenheit einen festen Platz im Haus erobert. Und immer stehen zu viele davon herum, zumindest tendenziell. Vier von ihnen flankieren den Standard-Esstisch, auch wenn da nur noch ein Single hockt, der den Kartoffelsalat aus dem Kühlschrank holt. Ist das reine Gewohnheit? Oder warten wir doch auf Gäste? Was wiederum zu verrückten Fragen führt wie die nach der Gesamtzahl aller Stühle weltweit: Gibt es womöglich mehr Sitzgelegenheiten als Menschen? Milliarden und Abermilliarden von Hockern, Sesseln, Bänken und Lounge-Möbeln? Selbst Experten im Internet sind sich nicht sicher, spekulieren über fernöstliche Sitz-Rituale ohne Sitz und Horden von Stühlen in Wartezimmern, Flughafen-Lounges und Büros. Zumindest im westlichen Teil der Welt hat sich der Stuhl durchgesetzt. Und wie die meisten genialen Erfindungen entspringt auch er menschlicher Bequemlichkeit. Der Stuhl ist Segen und Fluch zugleich. Denn zu viel Sitzen ist natürlich ungesund, predigen Ärzte seit Jahren: Rückenleiden, Kreislaufkrankheiten, ja sogar Krebs soll von zu viel Stillstand befördert werden. Insofern ist der Stuhl wohl verwandt mit all jenen Freunden, vor denen unsere Eltern immer warnten. Er ist verdammt bequem und verleitet zu schlechter Haltung. Etwas freilich hat sich getan in den vergangenen Jahren: Die Komplettausstattung aus Tisch und vier passenden Stühlen ist inzwischen einem bunten Stuhl-Mix gewichen - ähnlich den Patchwork-Familien, die auf ihnen Platz nehmen. Ein Tolix für den Sohn aus erster Ehe, das Erbstück für den Partner und Tripp-Trapp für die Kleine.

Wenn sich an einem Möbel der Stand der Zivilisation ablesen lässt, so ist es der Stuhl. Kaum ein Material haben Designer ausgelassen, vor allem auch keine Geschmacklosigkeit. Der Sonnenkönig nahm auf einem Sessel aus massivem Silber Platz, Studio Alchemia und Memphis hingegen verwandelten den guten alten Ohrensessel in hysterische Punker. Eines jedenfalls haben Stuhl, Hocker und Sessel gemein: Sie haben Karriere gemacht als durch und durch demokratische Dinge. Einer für alle. Der Stuhl sorgt für Gleichheit am Tisch, denn er bringt uns auf eine Höhe, Sitzriesen ausgenommen. Dank ihm versammeln wir uns harmonisch um einen (möglichst) runden Tisch zum Essen oder zur wöchentlichen Sitzung im Büro. Eine Illusion, wie der "Chefsessel in Leder" zeigt, den ein Onlineversender wie folgt anpreist: "Chefsessel vereinen Komfort, hochwertige Materialien und eindrucksvolle Optik. Sie werden gerne auch als Alternative zum klassischen Bürostuhl verwendet, vor allem an Arbeitsplätzen mit Kundenkontakt." Sitzen ist Status.

Historischen Modellen ist eine regelrechte Würdeformel eingeschrieben: hohe Lehne, gerader Rücken. Schließlich war der Stuhl anfangs noch exklusiv. Als Herrschersitz galt er neben Zepter und Krone als Zeichen von Rang und Würde. Nur der Chef saß, thronte eben, alle anderen mussten stehen, und erst langsam verschob sich das Gleichgewicht hin zum egalitären Sitzen. Inzwischen gibt es sogar Typen, die auf jedem dritten Urlaubsfoto auftauchen, nicht als Hauptdarsteller, sondern irgendwo im Eck. Der weiße Monobloc ist so einer, ein einfacher Stapelstuhl aus Kunststoff mit einer Armlehne, die sich aus dem Rücken ausfaltet, als hätte ein Papiermodell Pate gestanden. Der oder die Gestalter sind unbekannt. Fest steht nur, dass der Monobloc in den Siebzigerjahren auftauchte und seither in zahllosen Varianten gefertigt wird. Einfacher Spritzguss. Billige Massenware. Heute steht er am Strand, in kleinen italienischen Restaurants ebenso wie auf der Straße von Santiago de Chile.

Die Moderne konnte gar nicht genug kriegen von ihren Stühlen. Michael Thonet, der geniale Möbelbieger aus dem rheinischen Boppard, machte mit seinem Sessel Nr. 14 den Anfang. Der Bugholzstuhl, entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts, ist eines der ausgefeiltesten Serienprodukte überhaupt, flexibel, leicht - und auf Dauer unbequem. Der Kaffeehausstuhl schlechthin sollte wohl gar nicht dazu verleiten, bei einer Tasse zu versumpfen. Er war nur eine Plattform bis zum nächsten zahlenden Gast. Seine Form brach mit allem, was Handwerker bisher gedrechselt und gezimmert hatten und brachte Leichtigkeit in die Wohnung. Nummer 14 traf den Zeitgeist und wurde ein sensationeller und oft kopierter Erfolg. Zwei Generationen später, im Jahr 1910, hatte er eine Auflage von 50 Millionen erreicht. Thonet bog Holz dank Dampf und Druck in Form und verpackte je 36 zerlegte Stühle inklusive ihrer Schrauben in einen einzigen Container, der die Flachware rund um die Welt schickte: das Wegpack-Prinzip gut ein Jahrhundert vor dem schwedischen Möbelriesen.

Der Stuhl ist ein Formwandler. Sitz und vier Füße dran: fertig. Etwas Polster dazu: voilà, ein Sessel. Kürzt man die Füße, wird daraus ein Hocker. Verlängert man hingegen das Basismodell, entsteht eine Bank. Vielleicht lockte dieses Vielfalt Gestalter und der Wunsch, etwas Bleibendes zu hinterlassen. Zugleich gilt der Stuhl unter Entwerfern als Königsklasse. Doch warum entwerfen sie immer weiter, wo es doch Hunderte, ja Tausende bester Entwürfe gibt? Oft kommt als Antwort, dass es eben auch Millionen unterschiedlicher Menschen gebe, die sich nicht in eine Norm pressen ließen, auch wenn es eine solche gibt. DIN 68878 "Stühle für den Wohnbereich - Gebrauchseigenschaften - Anforderungen und Prüfverfahren" regelt so ziemlich alles rund um das Sitzen. Die ideale Höhe der Sitzfläche liegt angeblich irgendwo zwischen 42 und 48 Zentimetern.

Eigenartig, dass er in diesen gesundheitsverrückten Zeiten nicht auf der schwarzen Liste steht

Jedes neue Material wurde bisher in einen neuen Stuhl verwandelt. Mit Bugholz fing es an, es folgten Stahlrohr und Kunststoff, bis hin zu Hightech-Stoffen wie Polybutylenterephthalat (PBT) und Carbon. Daraus entstanden mitunter sogar Möbel, die sich dem Diktat des Aufrechtsitzens und Hände-auf-den-Tisch verweigerten wie der Sitzsack von Piero Gatti, Cesare Paolini und Franco Teodoro. Pünktlich zur Studentenrevolution ließen sich die Architekten von Säcken inspirieren, in denen Bauern Kastanienblätter sammelten, um Matratzen auszustopfen. Es ist schon wahr: Jeder Stuhl ist eine Frage der Haltung, und nicht alle sind so konsequent wie Donald Judd, der mit dem gleichen Eifer Möbel baute wie große Kunst. "Zum Essen oder Schreiben eignet sich ein gerader Stuhl am besten", sagte der Minimalist. Von so viel Härte haben wir uns längst verabschiedet mit Sitzmaschinen, die dank Lendenwirbelstütze und anderer orthopädischer Kniffe die Quadratur des Kreises versuchen: dynamisch zu sitzen, also Bewegung im Stillstand zu fördern.

Schon eigenartig, dass er in diesen gesundheitsverrückten Zeiten nicht auf der schwarzen Liste steht: der Stuhl. Oder wenigstens ein Warnhinweis auf seiner Lehne klebt: "Vorsicht, bewegungsloses Sitzen schadet Ihrer Gesundheit. Fragen Sie Ihren Orthopäden oder besuchen Sie lieber gleich eine Rückenschule." Seit Jahren predigen Gesundheitsgurus das aktive Sitzen, zugleich herrscht in deutschen Büros oft völliger Stillstand. Der Stuhl ist schlichtweg zu bequem - oder sind wir es? Sessel, Bänke und Hocker scheinen uns aufzulauern. Wo immer eine Nische ist, warten sie auf Besitzer. Und es gehört immer etwas Rückgrat dazu, nicht Platz zu nehmen.

© SZ vom 27.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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