Stadtplan München:Von rot zu bunt

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Die Kazmairstraße auf der Schwanthalerhöhe säumen gediegene Altbauten, die zum Teil unter Denkmalschutz stehen. Aus der Zeit gefallen sind aber weder die Anwohner noch die Geschäfte.

Von Ingrid Weidner

Noch ist Ferienstimmung im Westend. Wochentags wirken die Straßen fast leer, in vielen Geschäften und Lokalen hängen Urlaubsschilder an der Tür, die Urlaubszeit treibt viele Bewohner aus der Stadt. Unterhalb der Hangkante verriegelt ein Gitter das Festgelände, die mächtigen Bierbuden auf der Theresienwiese stehen bereits, das Hämmern der Arbeiter verschluckt der Straßenlärm.

Noch interessiert sich auf der Schwanthalerhöhe, wie der Stadtbezirk oberhalb der Hangkante offiziell heißt, kaum jemand für das Oktoberfest. Genügend Zeit also für einen Rundgang. Die Theresienwiese umschließt eine Ringstraße, die auch den Hügel hinaufführt. Wer dort auf den Alten Messeplatz einbiegt und der Festwiese den Rücken zukehrt, entdeckt gleich eine Besonderheit des Quartiers, denn Alt und Neu stehen sich dort direkt gegenüber. Auf der linken Straßenseite, dem ehemaligen Messegelände, reihen sich Neubauten mit Büros und Wohnungen aneinander, gegenüber sonnen sich die Altbauten.

Die Kazmairstraße beginnt am Ende des Messeplatzes und trifft nach etwas mehr als einem Kilometer auf die Astallerstraße. Im ersten Bauabschnitt, um 1890 entstanden, überwiegen viergeschossige Doppelhäuser, die den Blick in Hinterhöfe freigeben. Die dortigen Remisen und Werkstätten wurden längst in Wohnungen umgewandelt. Zwar wurden viele Fassaden später geglättet, doch in der Kazmairstraße lassen sich verschiedene Baustile wie Neo-Renaissance, Neo-Barock oder Jugendstil entdecken. Viele dieser Häuser stehen inzwischen auf der Denkmalliste.

Um 1907 rumpelte eine Straßenbahn durch die Kazmairstraße, doch 1953 wurde sie zwischen Theresienhöhe und Ganghoferstraße in die Heimeranstraße verlegt, 1984 wurde die Linie 20 ganz eingestellt. Heute können nur noch Fußgänger und Radfahrer der Kazmairstraße vom Alten Messeplatz bis zur Astallerstraße folgen, Autos müssen einen Umweg nehmen.

Thomas Stangl kann sich noch an die Straßenbahn und die Durchgangsstraße erinnern. 1974 übernahm sein Vater, ein gelernter Uhrmacher, in der Kazmairstraße 43 das Geschäft für Uhren und Schmuck, seit 1999 führt er den Laden. Der 52-Jährige schimpft über den Online-Handel, der den Einzelhandel ruiniere. Und erzählt, wie sich das Viertel und die Straße verändert haben. Er weiß, weshalb der gut gehende Obstladen gegenüber verschwand - die Eigentümer gingen zurück nach Griechenland - und ein Massage-Studio eröffnete, warum eine ehemalige Bankfiliale an der Ecke lange leer stand, bevor die Bäckerei Wimmer einzog. Ein Obst- und Feinkostgeschäft gibt es zwar noch an der Ecke zur Ligsalzstraße, doch in der Kazmairstraße konkurrieren jetzt ein Bioladen und ein Bio-Supermarkt um Kunden.

Stadtplan München: Kazmairstraße. SZ-Grafik (Foto: SZ)

Auch Stangl veränderte im Lauf der Zeit sein Sortiment. Zwar repariert und verkauft er immer noch Uhren und Schmuck, doch vor eineinhalb Jahren machte er Platz für ein Zeitschriftenregal und verkauft jetzt auch Rauchwaren - eine ungewöhnliche Kombination, wie er einräumt. Doch als Norbert Göbel in der Ganghoferstraße seinen Kiosk schloss, fragte er bei Stangl gleich ums Eck nach, ob er Interesse habe, das Sortiment zu übernehmen. Stangl überlegte nicht lang. "Mit dem Kiosk kommen mehr Leute, die auch mal eine neue Batterie für ihre Uhr brauchen, unseren Schmuck sehen und wiederkommen", so sein Kalkül.

Gerade lässt sich eine ältere Dame beraten, welcher Verschluss zu ihrer Perlenkette passt. Immer wieder kommen Raucher vorbei und versorgen sich mit Tabak und Zigaretten. Die Kunden stammen überwiegend aus dem Viertel, doch Stangl spürt deutlich, wie der Onlinehandel die Kunden wegschnappt. Von den fünf im Viertel angesiedelten Schmuck- und Uhrengeschäften sperrt er als Einziger noch täglich seine Ladentür auf, mit dem integrierten Kiosk schon um sieben Uhr morgens.

Und wie sieht's zur Wiesn aus? Kommen neue Kunden ins Westend? Stangl winkt ab. "Wir sperren dieses Jahr zwei Wochen zu", sagt er. Als die Kazmairstraße noch belebter gewesen sei, die Busse um die Ecke parkten und die Wiesnbesucher durch die Straße strömten, verkaufte sein Vater viel Trachtenschmuck. Verdienen ließ sich für ihn mit dem Oktoberfest kaum etwas, nur der Biergarten oder Lokale profitierten. Durch die aufwendigen Straßensperren und Halteverbote kämen zu wenig Menschen vorbei.

Anders als Stadtteile wie Sendling, Schwabing oder Haidhausen entwickelte sich das Westend nicht aus einem Dorfkern. Auf dem kargen Plateau gab es nur eine spärliche Bebauung, wegen der schlechten Böden kaum Ackerbau. Die Sendlinger Haide, wie das Areal hieß, wurde um 1800 von den Brauereien entdeckt. Sie lagerten dort Bier, später kamen Ausflugslokale und Biergärten dazu. Heute braut nur noch Augustiner sein Bier dort. Auch die Wirtshäuser mit Garten an der Hangkante sind verschwunden, nur am Bavariapark können Besucher noch unter Kastanien den Sommer genießen.

Benannt wurde die Kazmairstraße 1878 nach dem reichen Münchner Patriziergeschlecht der Kazmair. In älteren Straßenkarten findet sich auch die Schreibweise "Katzmaierstraße". Auch andere Patrizierfamilien wie Barth, Tulbeck, Gollier oder Ligsalz waren Namenspaten. Eigentlich wollten die Planer dort ein Villenviertel anlegen, zu dem die Namen wohlhabender Familien passten. Doch stattdessen siedelten sich dort immer mehr Industriebetriebe an, aus den hochfliegenden Plänen wurde nichts.

Früher galt das Westend als Glasscherbenviertel, heute ist es angesagte Wohngegend

Wohnblocks statt Villen entstanden. Doch viele Arbeiter konnten sich die Neubauwohnungen nicht leisten. Aus der Not heraus gründeten sie Wohnungsbaugenossenschaften. Eine der ersten war 1888 der "Katholische Arbeiterverein München/West", dessen Mitglieder 1893 die ersten fünf Häuser bezogen. Die Baugenossenschaft Ludwigsvorstadt, 1911 gegründet, konnte einen unbebauten Geländestreifen erwerben und schnell mit dem Bau einer Wohnanlage beginnen, die bereits 1913 fertiggestellt wurde.

Der mächtige Wohnblock an der Kazmairstraße 38 bis 54 erstreckt sich auch auf Teile der Gerolt-, Ganghofer- und Gollierstraße, geplant hat die Anlage Hans Eisenrieth. 1926 ergänzte man das Ensemble noch um einen Saal mit Gastwirtschaft, der nach der Baugenossenschaft Ludwigsvorstadt benannt wurde. Das Lokal war damals ein beliebter Treffpunkt der Kommunisten. Auch heute ist dort noch eine Kneipe angesiedelt.

Wirtshäuser dienten vielen als Wohnzimmer, Vereine entstanden und entwickelten sich zu Treffpunkten, um mit Gleichgesinnten die Freizeit mit Singen, Turnen, Theaterspielen oder Radfahren zu verbringen. Auch einige Kinos gab es im Viertel, beispielsweise die Westend-Lichtspiele in der Kazmairstraße 60, die 1961 schlossen.

In den 1920er-Jahren war das Westend ein klassisches Arbeiterquartier und galt als rotes Viertel, das von Sozialdemokraten und Kommunisten geprägt war. Viele kamen auf der Suche nach Arbeit in die Stadt und siedelten sich dort an. Auch später fanden Migranten dort günstigen Wohnraum. Viele Jahre galt das Westend als Glasscherbenviertel und Arme-Leute-Gegend. Doch nachdem immer mehr Industriebetriebe verschwanden und in den 1970er-Jahren die Sanierung begann, entwickelte sich das Viertel immer mehr zur beliebten Wohngegend.

Heute leben dort viele junge Familien; statt Arbeitertreffs gibt es nun ein buntes Angebot an Cafés und Kneipen und Galerien, und in viele kleine Ladengeschäfte zogen Büros ein. Die Wiesn stört zwar dort die Ruhe für zwei Wochen, doch danach dominiert wieder die unaufgeregte Gemütlichkeit.

© SZ vom 08.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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