Lärmschutz:Krach, lass nach

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Lärm ist schon seit 2000 Jahren ein Problem für Stadtbewohner. Aber es gibt immer wieder neue Lösungen, gegen akustische Belästigungen vorzugehen - manche sind ziemlich skurril.

Von Dagmar Deckstein

Der Berliner Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858 bis 1918) empfahl seinerzeit eine vergleichsweise einfache und preisgünstige Lärmschutzeinrichtung, die jedem Stadtbewohner bis heute zur Verfügung steht. In seinem 1903 erschienenen Aufsatz "Die Großstädte und das Geistesleben" beschrieb Simmel als interessante Eigenschaft der Städter "... diese eigentümliche Anpassungserscheinung der Blasiertheit, in der die Nerven ihre letzte Möglichkeit, sich mit den Inhalten und der Form des Großstadtlebens abzufinden, darin entdecken, daß sie sich der Reaktion auf sie versagen". Mit anderen Worten: Bei akustischer und sonstiger Reizüberflutung einfach nicht mehr hinhören, geschweige denn aufregen!

Wenn es denn so einfach wäre! Pferdehufgetrappel, quietschende Straßenbahnen und schreiende Zeitungsjungen dürften noch die Berliner Geräuschkulisse zur vorletzten Jahrhundertwende dominiert haben, heute sind es röhrende Automotoren, Presslufthämmer, Kettensägen, Laubbläser, Vuvuzelas von Fußballfans, ratternde Güterzüge und jede Menge andere störende Geräusche, angesichts deren Beschallungspotenzial stoischer Gleichmut nicht unbedingt die erste Wahl sein dürfte. Ganz abgesehen davon, dass später wissenschaftlich - und eindeutig - nachgewiesen wurde, dass ständige Beschallung oberhalb einer Lärmgrenze von 55 Dezibel (dB(A)) auch krank machen kann. Genervt von Lärm waren übrigens wohl auch schon die alten Römer vor 2000 Jahren. Dem Dichter und Satiriker Juvenal zufolge soll Cäsar so eine Art Nachtfahrtverbot für Transporte aller Art vom Tiber in die Stadt verhängt haben, wegen des ohrenbetäubenden, nachtschlafraubenden Lärms.

Kurz: Lärm störte Menschen eigentlich schon immer. Aber man kann etwas dagegen unternehmen. Anstelle der Cäsaren sind heute allerlei Regelwerke wie das Bundes-Immissionsschutzgesetz mit seiner Verkehrslärmverordnung einerseits und mit der Sechsten Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm - TA Lärm) andererseits getreten. Erstere will vor Verkehrslärm jeder Art schützen, die TA Lärm vor Geräuschen aus Gewerbebetrieben, sei es vom Handwerksbetrieb um die Ecke oder von Lkw-Anlieferungen vor dem benachbarten Großhandelsmarkt.

Abendlicher Berufsverkehr in München. Auf der Ludwigstraße wälzt sich ein nicht enden wollender Autostrom stadteinwärts in Richtung Feldherrnhalle. Starker Straßenlärm erreicht schon mal mehr als 80 Dezibel und ist Stress für die Ohren. (Foto: Ralph Peters/imago)

Hat man es als Nutzer oder Bauplaner mit Letzterer, mit der knallharten TA Lärm zu tun, "wird man eigentlich seines Lebens nicht mehr recht froh", sagt Thomas Jocher. Er ist Architekt und Direktor des Instituts "Wohnen und Entwerfen" der Universität Stuttgart. Jocher hat mit seinem Architektenteam Fink+Jocher schon zahlreiche Wohnbauprojekte selbst mitentworfen oder saß in Jurys zur Begutachtung von Entwürfen. Die TA Lärm zur Wohnnutzung neben Gewerbebetrieben schreibt etwa vor, dass keine Aufenthaltsräume zum Schlafen und Wohnen in Richtung Lärmquelle vorgesehen werden dürfen; dass die Fenster der Nicht-Aufenthaltsräume - etwa Küche oder Bad - nicht mit Fenstern zum Öffnen ausgestattet werden dürfen und allerlei andere Schutz verheißende Schikane. "Das ist, so gesehen, natürlich auch eine Art Entmündigung der Menschen, die dort wohnen und leben wollen und vielleicht gar nicht so lärmempfindlich sind", meint der Architekturprofessor.

"Was passiert eigentlich, wenn in 30 Jahren keine Autos mehr in den Innenstädten herumfahren?"

In Stuttgart hat der - natürlich wie überall einklagbare Lärmschutz für empfindliche Anwohnerohren - eine skurrile Ausformung erfahren. Im neuen Dorotheen-Quartier im Herzen der Stadt, zwischen Rathaus- und Karlsplatz gelegen, wurde nach den Plänen des Architekten Stefan Behnisch ein neues Stadtviertel mit drei modernen Häuserblöcken geschaffen. Unten jeweils Geschäfte und Restaurants der etwas gehobeneren Art, oben auf den schrägen Dächern, deren Fassade an blaue Folie gemahnt, wurden 19 Wohnungen integriert, deren Quadratmetermieten so um die 30 Euro liegen. Da aber eben dort ums neue Quartier herum auch regelmäßig Weihnachtsmarkt, Stadtfest, Fischmarkt und Weindorf stattfinden, erwächst dann aus Sicht der Stadt ein Problem: Wo es abends auch mal laut wird, dürfte eigentlich nicht gewohnt werden. Damit das trotzdem geht, müssen jetzt die Fenster der Wohnungen an Veranstaltungstagen ab 20 Uhr automatisch geschlossen werden - ob den Mietern das gefällt oder nicht.

Das reflektiert Jocher zufolge eines der Hauptprobleme der heutigen Stadtplanung, "dass wir es nämlich mit dem Umstand zu tun haben, dass die besten und ruhigsten Quartiere schon vor hundert Jahren vergeben und bebaut wurden. Heute haben wir es vor allem mit der Sanierung, Verdichtung und Neubebauung von lärmumtosten B- und C-Lagen zu tun. Etwa mit den Straßenzügen um die Donnersberger Brücke in München, wo täglich 100 000 Fahrzeuge entlangdonnern. Oder mit Lagen um den Mittleren Ring".

Eigentlich ist Thomas Jocher, 64, seiner Zeit wieder mal weit voraus. Verkehrslärm hin, Sägegeräusche her: "Was passiert eigentlich, wenn in 30 Jahren keine Autos mehr in den Innenstädten herumfahren werden?" Der Architekturprofessor macht sich schon heute Gedanken darüber, was dann "mit all den Tiefgaragen in den Wohnhäusern passieren wird". Die seien ja vorschriftsmäßig nur 2,20 Meter hoch, dunkel und, ja: "für wen und was dann eigentlich noch nutzbar?" Seine Bachelor-Studenten an der Uni Stuttgart hätten nicht das geringste Interesse gezeigt, sich mit solchen Themen zu beschäftigen. "Kommt aber noch", meint Jocher.

"Schall bahnt sich seinen Weg auch an vermeintlich dichten Wällen vorbei."

Schon die heutigen Lärmschutzbestrebungen ebneten den Weg zu einer weit weniger verkehrsbelasteten Stadt. Und immerhin stünden ja heute schon die Autos, um deren Dieselausführung inklusive Stadtfahrverbote derzeit so vehement diskutiert werde, nicht nur in der Stadt zu 90 Prozent am Straßenrand oder in der Garage. "Was die Menschen aber nach wie vor stört, ist nicht zuletzt auch das Kofferraumdeckel-Zuklappen an den stehenden Pkw mitten in den Innenstädten." Das ist doch kein Lärm? "Doch! Auch der wird von ohnehin schon genervten Anwohnern als störend empfunden. Also geht unser stadtplanerisch-architektonisches Streben dahin, immer auch mit zu überlegen: Wie bekommen wir die berechtigten Lärmschutzbedürfnisse unser Bewohner durch unsere Architekturkonzepte erfüllt?"

Zum Beispiel durch die traditionellen Lärmschutzwände, die aber je nach Schallquelle - eine sechsspurige Autobahn zum Beispiel - so hoch sein müssen, dass sie sich alles andere als ästhetisch in die Landschaft zwischen Wohnbebauung und Straße oder auch Schienenverkehr einfügen. Aber je nach Wind- und Wetterbedingungen bahnen sich auch Schallwellen ihren Weg über die Schutzwände hinweg. Oder, wie Thomas Jocher sagt: "Schall ist wie Wasser; der bahnt sich seinen Weg auch an vermeintlich dichten Wällen vorbei." Also hat sich die Architekturgemeinde wieder etwas Neues einfallen lassen: Die bewohnbare Lärmschutzwand, auf Neudeutsch "Living Wall".

Die wird auch vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung gelobt. In seiner Publikation 12/2011 "Gute Beispiele der städtebaulichen Lärmminderung" hat das Ministerium gelungene Beispiele in Deutschland, den Niederlanden und Österreich zusammentragen lassen, in denen "Lärm als bisher nur selten als städtebaulicher Missstand" erkanntes Problem auch mit solchen innovativen Lösungen in Angriff genommen wurde. "So zynisch der Begriff bewohnte Lärmschutzwand wirken mag", so heißt es im Fazit, "die Beispiele zeigen, dass bei solchen Lösungen durchaus hochwertiges, qualitätvolles Wohnen möglich ist und der Lärmschutz für die Hinterlieger optimal und mit anderen Maßnahmen nicht erreichbar ist ... Die Living Wall reicht dabei von der geschickten Grundrisslösung zum Schutz eines einzelnen Gebäudes bis zur durchgehenden Lärmschutzwand mit neuen Erschließungsformen". Bezug genommen wird dabei auf den Theodor-Körner-Hof in Wien, ein Gebäude in Düsseldorf mit einem mehr als 12 dB(A) geringerem Lärmpegel in der Gartenzone und auf Lärmschutzwände in Neuss, Wien und Tilburg.

Living Wall nennt sich ein meist riegelförmiger Bau, dessen Fassade zur Lärmquelle hin - etwa einer Autobahn - mit einer lärmmindernden Glasfassade verblendet ist, hinter der sich Laubengänge zu den Wohnungen befinden. Die Aufenthalts- und Schlafräume dürfen ausschließlich zur lärmabgewandten Seite liegen. Solche innovativen Lösungen beim passiven Lärmschutz haben aber, so Thomas Jocher, natürlich ihren höheren Preis. "Sie haben durch die Lärmwand-Vorgaben weniger Quadratmeter zur Verfügung, die Sie für Wohnraum nutzen können." Angesichts der immer lauteren Forderungen, mehr preiswerten Wohnraum in den Städten zu schaffen, sind auch hier - wie so oft - unterschiedliche, wenn auch jeweils berechtigte Interessen im Konflikt: billig und laut oder leise, aber teurer?

Um mit Georg Simmel zu reden: Eine gewisse blasierte Ignoranz wäre da manchmal unbezahlbar!

© SZ vom 25.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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