Wulff-Interview bereits vor Ausstrahlung im Netz:Ende der Sperrfrist

Um 20:15 Uhr wollten die Öffentlich-Rechtlichen das komplette Wulff-Interview zeigen - doch die Fernsehlogik funktioniert nicht mehr: Bereits anderthalb Stunden zuvor kursierte ein Audio-Mitschnitt im Netz, der sogleich auch kollaborativ transkribiert wurde. Eine Lehrstunde in Sachen Echtzeit-Gesellschaft.

Johannes Kuhn

Christian Wulff im Interview

Erst Internet, dann TV: Das Interview mit Christian Wulff.

(Foto: Getty Images)

Um 20:15 Uhr erfährt die Fernseh-Öffentlichkeit in voller Länge, was Bundespräsident Christian Wulff zu den Vorwürfen gegen ihn sagt. Nur: Wenn sie Teil der Internet-Öffentlichkeit ist, wird sie bis dahin bereits längst wissen, was passiert ist.

Die Debatte um die Sperrfrist für das Gespräch ist bizarr: Kurz nach 17 Uhr wurde das Gespräch aufgezeichnet, um 18 Uhr konnten es dann Journalisten sehen. Bereits zu diesem Zeitpunkt twitterte unter anderem die Nachrichtenagentur dpa die wichtigsten Aussagen.

Die ARD wollte erste Auszüge (!) um 18:25 Uhr veröffentlichen, das ZDF kurz darauf. Wer die kompletten 21 Minuten sehen möchte, muss sich eigentlich bis 20:15 Uhr gedulden.

Wie sinnlos solche Sperrfristen sind, zeigte sich allerdings schon um 18:45 Uhr: Da hatte Markus Beckedahl bereits eine Audio-Version des Interview in seiner Komplettfassung auf sein Blog Netzpolitik.org hochgeladen, die ihm zugespielt worden war. Nachdem die Netzpolitik-Server kurz zusammenkrachten, wurde die Daten auf den ersten Mirror-Seiten weiterverbreitet.

Bereits um 19 Uhr arbeitete ein Kollektiv von fleißigen Netzhelfern im Piratenpad an einem Transkript des Gesprächs. Wer wissen möchte, wie Kollaboration im Echtzeit-Zeitalter aussieht, sollte sich dort den Chat dazu durchlesen.

Jetzt ist es 19:45 Uhr. Die Hinweise auf die Audiodatei haben sich wie stets in Windeseile verbreitet, das Transkript bildet viele wichtige Passagen bereits komplett ab. Nur bei ARD und ZDF freut man sich wahrscheinlich über den Scoop, den Bundespräsidenten exklusiv bekommen zu haben.

Die Freude sei den Kolleginnen und Kolleginnen gegönnt (jenseits der Frage, warum es keine Pressekonferenz gab), aber mit einem kurzen Hinweis versehen: Wer glaubt, ein solch wichtiges Ereignis im digitalen Zeitalter scheibchenweise präsentieren zu können, hat nicht viel von Auftrag und Medienwandel verstanden. Oder, wie jemand auf Twitter treffend analysierte: High Five to the internet.

Update: Markus Beckedahl erklärt bei Netzpolitik.org die #wulffleaks-Hintergründe.

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