Online-Netzwerke:Der entblößte Mensch

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Facebook hat heute fast so viele Nutzer wie die USA Einwohner - die Menschheit sendet global, denkt aber noch lokal: Die Langzeitwirkung des Daten-Exhibitionismus kann sich niemand ausmalen.

B. Graff

Die Mitgliederzahlen von Online-Netzwerken können nicht mehr anders als in Staatengröße gedacht werden. In dieser Woche vermeldete die Website Facebook, im Februar 2004 als Exklusivzirkel für Harvard-Studenten gegründet, dass sich bei ihr mittlerweile 250 Millionen Nutzer weltweit registriert haben. Das sind zwar noch etwas weniger, als die USA Einwohner haben. Doch bei Zuwachszahlen von 90.000 Neu-Mitgliedern täglich dürfte auch die 300-Millionen-Grenze bald erreicht sein.

Kinder tun es, Erwachsene tun es, Alte tun es: Man diskutiert, offenbart sich, sein Leben, seine Meinungen und Neigungen mehr oder weniger unverhohlen im Netz. (Foto: Foto: dpa)

Das amerikanische Marktforschungsunternehmen Comscore will ermittelt haben, dass 734 Millionen Menschen in aller Welt ein solches Netzwerk nutzen. Immer häufiger übrigens über ein mobiles Gerät und nicht über stationäre Rechner. Damit wären zwei Drittel der Online-Bevölkerung inzwischen Mitglieder bei geschätzten 2000 Internet-Netzen, um sich dort gegenseitig zu suchen und zu finden, Interessengruppen zu bilden oder Nachrichten, Bilder und Videos auszutauschen. Kinder tun es, Erwachsene tun es, Alte tun es: Man diskutiert, offenbart sich, sein Leben, seine Meinungen und Neigungen mehr oder weniger unverhohlen.

So selbstverständlich wie der Gebrauch von Telefonen

Inzwischen ist das tägliche Verweilen in einem sozialen Web wie Facebook, MySpace, Xing, lokalisten.de, StudiVZ und wer-kennt-wen.de für Menschen mit Zugang zum Internet so selbstverständlich wie der Gebrauch von Telefonen. Zehn Prozent der gesamten Online-Zeit werden mit dieser Spielart des Web 2.0 verbracht. Kaum ein anderer gemeinsamer Mediengebrauch erreicht sonst noch solche Beteiligungszahlen - die Trauerfeier für Michael Jackson einmal ausgenommen.

Und das, obwohl soziale Netzwerke keinen passiven Konsumenten von Programmen kennen, sondern den aktiven Nutzer erwarten, der selbst Beiträge verfasst und viel über sich, seine Meinung und sein Befinden preisgibt.

Genau hier, bei der alltäglichen Publikation individueller Daten, fangen die Probleme an, deren Ausmaß niemand einschätzen kann. Es ist aber schon jetzt erstaunlich, wie viele Informationen aus dem Alltag der Nutzer sich im Netz spiegeln. Noch vermag niemand zu sagen, was aus all den Datensätzen wird, die sich im Laufe von Jahren und Generationen dort ansammeln.

Wie also soll die Gesellschaft damit umgehen, dass aus der Kommunikation der Gegenwart irgendwann einmal das Gedächtnis der Alltagskultur geworden sein wird? Ein ziemlich verlässliches zumal, das weder die Bilder noch das Geschwafel der eigenen Jugend vergisst. Eine Archäologie des Netzes und seiner Webinschriften steht aus verständlichen Gründen noch aus.

Und so weiß keiner, was einmal aus den milliardenfachen Facebook-Beiträgen in zehn oder gar in fünfzig Jahren werden wird, wo sie lagern, wem sie gehören und für wen sie dann zugänglich sein werden. Wird es den Jugendlichen von heute als Erwachsenen peinlich sein, wenn ihr dummes Zeug, an das sie inbrünstig glauben, in Jahrzehnten noch im Netz abrufbar sein wird? So unverblümt und digitalfrisch wie am ersten Tag?

Jeder ist der Sender

Massenmedien des letzten Jahrhunderts waren nach dem klassischen Sender-Empfänger-Modell aufgebaut: Eine Publikationszentrale versorgte zwar sehr viele Menschen mit Informationen. Doch das, was hier Kommunikation genannt wurde, verlief immer nur in eine Richtung: Vom Sender zum Empfänger. Die Empfänger ihrerseits besaßen gar nicht die Mittel und folglich nicht die Reichweite, um selber auf Sendung gehen zu können. Wer sich austauschen wollte, besprach sich in unmittelbarer Begegnung mit seinen Freunden, im Einzelgespräch am Telefon oder zeitverzögert per Post.

Das ist inzwischen anders: Die sozialen Netze des Internet sind per se Mehrweg-Massenkommunikation. Jeder ist sein eigener Sender mit der Chance, tatsächlich weltweit wahrgenommen zu werden. YouTube-Videos von Unbekannten, die millionenfach angeschaut wurden, belegen das. Und doch gibt es gravierende Unterschiede: Zwar agiert man mutmaßlich in der intimen Öffentlichkeit seiner online versammelten Freunde. Doch wird hier nicht einfach nur Intimes zur Schau gestellt?

Das dürfte gerade für Eltern von besonderer Brisanz sein: Deren Kinder lassen sich in Online-Plattformen über Gott, die Welt und die politischen Ansichten des Elternhauses aus. Die Anonymität des Netzes, die Leichtigkeit, mit der dort "Freundschaften" geschlossen und wie Trophäen gesammelt werden, sorgen außerdem dafür, dass nicht immer klar ist, mit wem der Nachwuchs Umgang pflegt.

Facettenreich wie das Leben

Die Bereitschaft auch von Erwachsenen jedenfalls, sich dieser technisch vermittelten Öffentlichkeit zu präsentieren, war zuvor nur von Schauspielern aus Film und Theater bekannt. Vielleicht muss man also eine Bühnenmetapher bemühen, um diese oft eigenartige Staffage der Webpräsenz, den auf Pointen ausgerichteten Ton und die oftmals verwinkelte Konstruktion der Rollenprofile zu verstehen, unter denen sich Zeitgenossen im Netz dargestellt sehen wollen.

Schon darum ist kaum zu klären, was virtuelle Communities eigentlich sind: Gemeinschaften, so real wie andere auch, Informationspools und Medien für die demokratische Wissens- und Willensbildung? Plattformen für ungezügelte Selbstdarstellungen, Programme, in die man sich reinzappt wie in die tägliche TV-Soap? Die Antwort darauf scheint banal: Sie sind all das und mehr und folglich so facettenreich wie das Leben auch.

Und gerade darum müssen diese Phänomene jeden Datenschützer mit intakter Selbstachtung auf den Plan rufen. Denn unabhängig davon, dass die Datenschutzbefohlenen ihr "Recht auf informationelle Selbstbestimmung" oftmals nutzen, um alle Informationen über sich selbst ins Web zu stellen, scheinen die Plattformbetreiber wie Spinnen im Netz auf personenbezogene Informationen zu warten.

Schutzlücken und undurchsichtige Geschäftsbedingungen

So kritisierten neben der Grünen-Fraktionschefin im Bundestag, Renate Künast, auch der Bundesverband der Verbraucherzentralen und der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar in dieser Woche Datenmissbrauch, Schutzlücken und undurchsichtige Geschäftsbedingungen der Betreiber: Sie könnten persönliche Informationen über Privatleute einholen, Verhaltensdaten der Nutzer auswerten und Profildaten Dritten zugänglich machen.

Außerdem kaschierten die Betreiber diese Nutzung der personenbezogenen Daten und veränderten heimlich die Klauseln zu ihren Gunsten, so die Vorwürfe. Einige Anbieter gelobten Besserung, andere verwiesen auf unterschiedliche Rechtsstände in ihren Herkunftsländern. Auch hier zeigt sich, dass wir es mit einer sich noch entwickelnden Technik zu tun haben, deren Richtlinien und Gebrauchsanweisungen gerade erst entstehen.

Die Menschheit sendet global, aber denkt noch lokal. Bald schon wird sie Internetinhalte auch noch historisch denken müssen. Doch unabhängig davon, dass noch niemand die Langzeitwirkung des gegenwärtigen Daten-Exhibitionismus ausmalen kann, muss dennoch klar sein: Die virtuelle Welt ist immer auch die wirkliche.

© SZ vom 18.07.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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