Fernmeldegeheimnis:Elektronischer Staubsauger unterwandert Grundrecht

Der Geheimdienst filtert, rastert, speichert, was das Zeug hält und prüft jeden Tag etwa 100.000 E-Mails und Datenverbindungen. Die Telekommunikation genießt keinen Schutz mehr. Schuld daran ist nicht das Internet, sondern das Versagen des Bundesverfassungsgerichts.

Heribert Prantl

Das Wort Fernmeldegeheimnis stammt aus einer Zeit, in der Telefone noch Tischfernsprecher hießen und aus Bakelit gemacht wurden. Damals war das Fernmeldegeheimnis ein echtes Grundrecht. Dies gilt heute nur noch dem Namen nach: Es steht noch unter Nummer 10 im Grundgesetz; aber es hat seinen Wert verloren. Das liegt nicht an der technischen Revolution, also nicht daran, dass aus dem Fernmeldewesen "Telekommunikation" geworden ist und das Internet zum Alltag gehört. Das liegt an Entscheidungen des Gesetzgebers - also an Sicherheitsgesetzen und an der Saumseligkeit des Bundesverfassungsgerichts: Es darf abgefragt, gefiltert und gerastert werden, was das Zeug hält.

Der Schutz aus Karlsruhe ist schwach. Das Telekommunikationsgesetz, in dem sowohl das Fernmeldegeheimnis als auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung Kümmer-Existenzen führen, wurde soeben in Karlsruhe weitgehend gebilligt - nur die Pin-Codes sollen ein wenig mehr geschützt werden.

Nun ist auch noch bekannt geworden, dass die deutschen Geheimdienste im Jahr 2010 rund 37 Millionen E-Mails und Datenverbindungen überprüft und auf Schlagwörter hin untersucht haben: Bombe, Rakete, Atom. Auch das geht zurück auf falsche Karlsruher Großzügigkeit, auf den Ur-Fehler des Gerichts im Jahr 1999, als es zu lax über das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 entschied: Damit wurde der sogenannte elektronische Staubsauger installiert, der es dem Geheimdienst erlaubt, Telekommunikation zu kontrollieren und auch aufzuzeichnen, sobald darin bestimmte Stichwörter fallen. Die Trennung zwischen Polizei und Geheimdienst bei der Verbrechensverfolgung war damit aufgegeben.

Man hätte erwarten können, dass das Verfassungsgericht zu einem einfachen Mittel greift: der gesamten Abhöranlage die rechtsstaatliche TÜV-Plakette zu verweigern. Das hat es nicht getan. Es hat sich einlullen lassen von den Beteuerungen, dass der Geheimdienst schon rein technisch nicht mehr als 15.000 Telekommunikationen täglich erfassen könne.

Die Richter schrieben also nur eine neue Gebrauchsanweisung für den Staubsauger: Die Abhörerei wurde mit Beschränkungen erlaubt. Wie die aktuellen Abhör-Zahlen zeigen, hat das nichts genutzt. Von 2001 an wurden neue Gesetze erlassen und stärkere Staubsauger installiert. Die Abhöranlagen des Bundesnachrichtendiensts sollten (so die Gesetzesbegründung 2001) so ausgelegt sein, "dass sie täglich ca. 100.000 Telekommunikationen erfassen und in die Wortbank leiten können". So geschieht es. Das kleine, gutwillige Parlamentarische Kontrollgremium kann das nicht kontrollieren. Das ist objektiv unmöglich.

Man wird sich dem Satz des früheren Verfassungsrichters Jürgen Kühling anschließen müssen, der sich gegen diese Entwicklung vergeblich gewehrt hat: Man kann das Fernmeldegeheimnis "als Totalverlust abschreiben". Das Grundrecht muss neu aufgerichtet werden.

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