Studium:Skalpell und Livestream

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Die Universität Tübingen überträgt Operationen im Internet, im Juni beginnt die elfte Staffel der "Sectio Chirurgica". Ihrem Gründer geht es auch darum, die digitale Hochschullehre nicht allein kommerziellen Anbietern zu überlassen.

Von Julia Klaus

"Und hier sehen wir: ganz schön viel Darm!" Eine Kamera erreicht den Bauchraum, vorbei an weißer Hautschicht, gelblichem Fett, roten Muskeln. Die Operateurin schiebt mit ihren Instrumenten ein dickes Paket Dünndarm zur Seite, damit die Zuschauer vor ihren Laptops freie Sicht haben. Online zugeschaltet sind Tausende Studenten, die auf dem heimischen Sofa sitzen oder in 21 Hörsälen in Deutschland, Österreich und Ungarn. Über eineinhalb Stunden hinweg wird ihnen erklärt, wie man einen bösartigen Tumor am Rektum entfernt.

Live-Operationen im Internet für Studenten - das ist die Idee, die hinter der " Sectio Chirurgica" der Universität Tübingen steckt. Die Videos sollen angehenden Medizinern Einblicke in die chirurgische Praxis vermitteln, die das Studium nicht immer bieten kann. Am 1. Juni beginnt die elfte Staffel. Viele der bisher gedrehten Filme finden sich in der Mediathek, so wie die Folge, die eine Tumorentfernung am Rektum vorführt; sie wurde im November aufgezeichnet. Operiert wird an Verstorbenen, die ihren Körper der Forschung und Lehre vermacht haben.

Die "Sectio" ist ein weltweit einzigartiges Projekt. Professor Bernhard Hirt hat sie 2008 gegründet, er leitet die Klinische Anatomie an der Uniklinik in Tübingen. Jedes Semester drehen er und sein Team bis zu 14 Folgen, von der Behandlung eines Nasennebenhöhlentumors bis zur Implantation eines Kunstherzens sind die unterschiedlichsten Operationen erläutert worden. Hirt übernimmt die theoretische Eröffnung. Wie ein Wettermoderator steht er im Studio vor einem Greenscreen und erläutert den Eingriff. Die Grafiken hinter ihm zeigen bunte Venen, Muskeln, Knochen. "Wir geben also runter in den OP", sagt er am Ende. Und ein Stockwerk tiefer macht sich der Operateur an die Arbeit.

Dort ist ein Filmset aufgebaut, wie es auch bei den Fernsehserien "Grey's Anatomy" oder "Emergency Room" stehen könnte. Um den Tisch herum sind Kameras und Scheinwerfer platziert, die Ärzte und Assistenten tragen blaue Kittel, Handschuhe und Hauben. Alle Handgriffe müssen sitzen. Waren bei der ersten Ausstrahlung der "Sectio" 200 Zuschauer angemeldet, sind es mittlerweile 27 000. Das entspricht knapp einem Drittel aller Humanmedizinstudenten in Deutschland. Der Zugang ist durch ein Passwort geschützt, die Videos sind nur für Medizinstudenten oder Personen gedacht, die im Medizinbereich arbeiten.

Seit dem Start vor neun Jahren ist die "Sectio" immer professioneller geworden. Parallel zur Operation laufen ein Chat und ein Quiz, ein Second Screen versorgt die Zuschauer mit Zusatzinfos. Und auch für die kommende Staffel hat sich Hirt etwas Neues überlegt: Er ließ Vorfilme produzieren, die auf die Live-OPs vorbereiten. Zur ersten Folge, einer Brustkrebsoperation, gibt es vier Spots. Einer begleitet eine Selbsthilfegruppe beim Paddeln auf dem Neckar, ein anderer demonstriert das korrekte Abtasten in einer Frauenklinik. "Damit soll eine Erkrankung ganzheitlich behandelt werden, statt nur die Schnitte der Chirurgen zu zeigen", sagt Hirt.

Für angehende Medizinstudenten gehört der Blick ins Internet längst zum Studium dazu. Nur werden dazu meist kommerzielle Anbieter genutzt. Platzhirsch ist hierzulande die App Amboss, die Ankreuzaufgaben zum Lernen anbietet. Laut den Gründern verwenden sie 95 Prozent aller angehenden Ärzte, die sich auf das zweite Staatsexamen vorbereiten. "Wir überlassen das Feld der digitalen Hochschullehre kommerziellen Anbietern, und das ist nicht gut, weil nicht qualitätsgesichert. Das muss die Aufgabe der Universität sein", fordert Hirt. Für ihre Leistungen im Bereich Digitalisierung wurde die "Sectio" schon ausgezeichnet. Das Angebot ist im Alltag der Studenten angekommen, auf Facebook hat die Seite 11 000 Abonnenten, die bei Veranstaltungen wie "Die Nierentransplantation" auf "interessiert" klicken können.

Lukas Schulte von der Uni Witten/Herdecke verbindet eine Folge oft mit einem WG-Abend. "Ich kenne die 'Sectio' schon seit 2014. Für mich ist es eine Lernsendung, die auch unterhält. Ich finde es nicht schlimm, dabei Pizza zu essen." Dem 22-Jährigen, der im dritten Semester Medizin studiert, geben die Videos Einblicke in die spätere OP-Welt. "Sie sind spannende Bruchstücke, bilden aber nicht den Umfang ab, den man lernen muss. Das kann das Format nicht schaffen - das muss es auch nicht", findet er.

Wenn es nach Hirt geht, sollen noch mehr Studenten im Ausland einschalten. Bislang sitzen die meisten Zuschauer wie Schulte in Deutschland. "Wir wollen Gäste aus dem Ausland einladen, die es an ihre Unis tragen", sagt Hirt. Bislang gebe es Zugriffe aus Österreich, der Schweiz, Ungarn und Litauen. Auch in Neuseeland haben die Tübinger einen hartgesottenen Fan, der für die Live-Schalte um sechs Uhr morgens aufsteht. Die Folgen werden schon jetzt live ins Englische übersetzt, Hirt möchte bald auch Italienisch, Französisch und Chinesisch anbieten können. Finanziert wird das Projekt durch Einnahmen aus Weiterbildungskursen für Chirurgen.

Damit die Lehrvideos entstehen können, werden jährlich zwischen 60 und 70 Körperspender ins Anatomische Institut in Tübingen gebracht. Zu Lebzeiten haben sie zugestimmt, dass die Eingriffe gefilmt werden dürfen. Während sie im Institut liegen, haben sie keinen Namen, nur eine Nummer, ihre Gesichter sind stets bedeckt, wenn die Kamera läuft. Nach ein bis zwei Jahren, in denen mehrmals an ihnen operiert wird, werden sie bei einem Gottesdienst ausgesegnet. Dann werden auch die Namen der Spender verlesen.

Für Hirt ist der würdevolle Abschied entscheidend: Studenten gestalten den Gottesdienst und bedanken sich, Angehörige können sich verabschieden. Anschließend wird der Körperspender eingeäschert und beigesetzt. Die Kosten für die Bestattung und die Grabpflege trägt die Universität. Hirt bekommt mehr Anfragen, als er annehmen kann. Doch dass es den Spendern darum geht, Friedhofsgebühren zu sparen, glaubt er nicht. "Wir behalten uns vor, die Spende abzulehnen. Von daher denke ich, dass die Motivation überwiegt, die Medizin voranzubringen."

© SZ vom 29.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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