Sexualwissenschaft:"Bei sexuellen Vorlieben gibt es kein Richtig oder Falsch"

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Die Sexualforschung geht heute weit über die Aufklärung von Jugendlichen hinaus. (Foto: dpa)

Konrad Weller ist Professor im deutschlandweit einmaligen Studiengang "Angewandte Sexualwissenschaft". Ein Gespräch über wissbegierige Senioren und überinformierte Jugendliche.

Interview von Nadja Lissok

In den Unigesprächen befragen wir Forscher und Hochschullehrer, die sich mit einem sehr speziellen Fachgebiet beschäftigen. Diesmal im Interview: Konrad Weller, promovierter Psychologe und ehemaliger Berater bei Pro Familia, der an der Hochschule Merseburg im Studiengang "Angewandte Sexualwissenschaft" lehrt.

Herr Weller, gehören so intime Themen wie Liebe, Sex und Partnerschaft überhaupt an die Uni?

Ja, denn die Sexualität des Menschen ist ein essenzieller Bestandteil der Persönlichkeit und ihrer Entwicklung. Trotzdem ist sie in den akademischen Fächern sehr unterrepräsentiert. Egal, ob Sie Psychologen, Pädagogen oder Soziologen fragen - sie alle erfahren im Studium wenig über die Sexualität des Menschen. Selbst Mediziner, die sich als Urologen oder Gynäkologen jeden Tag mit den Sexualorganen des Menschen beschäftigen, thematisieren in der Ausbildung kaum sexuelle Reaktionen oder psychologische Aspekte der Sexualität. Die Sexualwissenschaft ist also nur insofern exotisch, als sie in der akademischen Ausbildung systematisch ausgeblendet wird.

Auf dem Stundenplan steht zum Beispiel "themenbezogene Selbsterfahrung". Was verbirgt sich hinter diesem Seminar?

Wir sind überzeugt, dass unsere Studierenden, egal ob sie später zum Beispiel als Sexualpädagogen oder in der Beratung arbeiten, auch ihre eigene sexuelle Biografie reflektieren müssen. Es ist deshalb nicht ungewöhnlich, dass Teilnehmer sich in Seminaren darüber austauschen, seien es schöne oder weniger schöne Erlebnisse.

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Das sind sehr persönliche und intime Themen, aber es funktioniert?

Ja, weil wir nur 24 Studierende pro Jahr zulassen. Wir besprechen alle Themen in kleinen Seminaren. Und da es beispielsweise bei sexuellen Vorlieben kein Richtig oder Falsch gibt, die Werte und Moralvorstellungen aber sehr unterschiedlich sind, müssen die Studenten in Diskussionen auch einiges aushalten. Von Absolventen kriegen wir häufig das Feedback, dass sie im Studium bei uns viel über sich selbst gelernt haben.

Geht es Ihnen im Privatleben genau so? Wollen neue Bekannte auch gleich intime Dinge mit Ihnen besprechen, wenn sie von Ihrem Forschungsgebiet erfahren?

Natürlich rufe ich als Sexualwissenschaftler immer wieder Erstaunen darüber hervor, womit man sich wissenschaftlich beschäftigen kann. Ich selbst werde nicht mehr so oft angesprochen. Unsere Studierenden berichten hingegen häufig, dass sie von Freunden und Bekannten schnell mit einschlägigen Problemen konfrontiert werden.

Aus welchen Fachbereichen kommen Ihre Studenten? Was haben sie vorher studiert?

Das ist unterschiedlich. Ein Abschluss in "Soziale Arbeit" ist gerne gesehen, denn wer später in sexueller Bildung oder Beratung arbeiten möchte, sollte im Bachelor schon methodische Kompetenzen erworben haben. Das muss aber nicht sein: Wir haben eine zunehmende Vielfalt, zum Beispiel Studierende aus den Fächern Pädagogik oder Gender Studies.

Und wie ist das Geschlechterverhältnis unter den Studierenden?

Sehr asymmetrisch, es bewerben sich viel mehr Frauen als Männer. Wenn wir unter den 24 Studierenden vier Männer haben, sind wir schon zufrieden. Der Andrang ist groß: Jedes Jahr bewerben sich etwa 150 Personen auf die Studienplätze.

In einem Seminar geht es um die "postmodernen Herausforderungen der Jugendsexualität". Was bedeutet das? Eigentlich wachsen die heute 16-Jährigen doch frei und aufgeklärt auf.

Im Gegensatz zu ihren Großeltern sind die Jugendlichen heute "overscripted": Sie haben viel theoretisches Wissen in Bezug auf Sex, was einerseits gut ist, aber andererseits auch hemmt und Angst macht. Früher konnten beispielsweise heranwachsende Jungen gemeinsam masturbieren, heute tun sie das viel seltener, denn: Da wäre man ja schwul.

Mehr Informationen machen den Sex für Jugendliche nicht einfacher?

Nein, die Ängste und Sorgen der Heranwachsenden haben sich nicht verringert. Sie müssen sich in einer pluralisierten Sexualkultur orientieren. Aus dem guten alten Geschlechtsverkehr sind längst viele sexuelle Praktiken geworden. Mehr Freiheit bedeutet auch, dass ständig ausgehandelt werden muss, was wer mit wem tun möchte.

Sie thematisieren im Studium nicht nur Jugendsexualität, sondern auch "ältere Menschen und sexuelle Bildung".

Die Sexualpädagogik entfernt sich zunehmend von der Aufklärung, die nur dazu da ist, ungewollte Schwangerschaften zu verhindern. Sie nimmt neue Zielgruppen ins Visier. Lustvolle Sexualität bis ins hohe Alter ist heute eine Selbstverständlichkeit. Hierbei unterstützen Medizin und Pharmazie. Und auch Erwachsene haben den Bedarf nach sexueller Bildung und Beratung. Dazu muss man aber nicht zu Gesprächen ins Altersheim fahren, die Beratung erfolgt über Broschüren, Online-Portale oder Volkshochschulkurse.

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Es gibt Volkshochschulkurse zum Thema Sex?

Ich glaube, in unserer pluralisierten Gesellschaft gibt es nichts, was es nicht gibt. Für einen SM-Schnupperkurs gibt es sicher szenegerechtere Anbieter, wo man das richtige Fesseln lernt. Aber es soll auch schon Workshops an Volkshochschulen in diese Richtung gegeben haben. Unsere Studierenden entwickeln Workshop-Angebote, in denen zum Beispiel anatomisches Wissen für Erwachsene vermittelt wird. Früher dachte man, die Klitoris der Frau ist nur ein kleiner Knubbel, heute weiß man, dass sie ein relativ großes Organ ist. Damit ist ein neues Denken über die weibliche Sexualität verbunden.

Ein ganz anderes Thema ist die Debatte über Sex und Gewalt. Künftig kann eine sexuelle Handlung auch als Vergewaltigung verurteilt werden, wenn das Opfer sich nicht aktiv wehrt. Wie beurteilen Sie aus wissenschaftlicher Sicht die neueste Änderung des Sexualstrafrechts?

Sexualisierte Gewalt ist ein wichtiges Thema in unserem Studiengang. Wir bemühen uns um einen interdisziplinären Blick. Zugegebenermaßen bin ich als Psychologe und Sexualwissenschaftler meist skeptisch, wenn Gesetze, die die sexuelle Selbstbestimmung schützen sollen, verschärft werden. Unsere Sexualkultur und damit auch die Grenzziehung, was legal sein sollte und was nicht, lässt sich nur schwer in Gesetzestexten einfangen.

Das Prinzip "Nein heißt nein" soll die Rechte der Opfer von Sexualdelikten stärken.

Historisch betrachtet ist die deutsche Gesetzgebung auf einem guten Weg, in unserer Sexualkultur hat sich die sogenannte Verhandlungsmoral nachweisbar gut entwickelt. Das heißt, es gibt eine höhere Sensibilität gegenüber sexuellen Übergriffen. Wenn die Gesetzgebung diesem Prozess Nachdruck verleiht und zum Beispiel sexuelle Belästigung künftig noch stärker ahnden will, ist das nachvollziehbar.

Aber es soll in der gesellschaftlichen Diskussion auch nicht zu kurz kommen, dass die Menschen über ihre Wünsche und Bedürfnisse nachdenken und lernen, "ja" zu sagen. Das geht in der Pädagogik oft unter und eine Frau lernt eher, reaktiv zu sein und sexuelle Wünsche nicht frei zu äußern.

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