Schule:Die Ganztagsschule hinkt den Ansprüchen hinterher

Ganztagsschule

Schüler einer Ganztagsschule in Leinfelden-Echterdingen (Baden-Württemberg) beim Mittagessen in der Mensa.

(Foto: dpa)

Eine Studie zeigt: Die Bundesländer fördern Schüler nachmittags sehr unterschiedlich. Warum viele Erwartungen in Ganztagsangebote enttäuscht werden.

Von Johann Osel und Ulrike Nimz

Bürgermeister an der Tafel, Bürgermeister in der Mensa, Bürgermeister sogar auf der Schülertoilette - wenn in Städten und Gemeinden Ganztagsangebote an Schulen gestartet werden, bedeutet das Arbeit für die Fotografen der Lokalpresse. Kommunalpolitiker drängeln sich da in die erste Reihe, auch die konservativen, zum Beispiel von der CSU in Bayern. Dass deren Parteilinie die Ganztagsschule einst als Gift für die Familie und Quasi-Sozialismus anprangerte - längst vergessen. Solche Angebote, sagte vor 15 Jahren der CSU-Politiker Alois Glück, seien in der Breite "kein Thema", allenfalls für Hauptschulen in sozialen Brennpunkten. Vor anderthalb Jahrzehnten waren nicht mal 20 Prozent der Schulen bundesweit auf ganztägige Bildung ausgerichtet. Heute sind es 60 Prozent.

So gesehen sind Ganztagsschulen ein Erfolg, das Modell hat sich durchgesetzt. Wie aber steht es um die Qualität des nachmittäglichen Lernens? Dieser Frage sind die Forscher Klaus Klemm und Dirk Zorn in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung nachgegangen, die jetzt vorgelegt wurde. Ihr ernüchterndes Fazit: An den meisten Ganztagsschulen klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Die Studie untersucht, wie die Länder ihre Ganztagseinrichtungen ausstatten - wie viel zusätzliche Lernzeit in den einzelnen Schulformen geboten wird, wie viel Personal man einsetzt. In beiden Bereichen gleicht Deutschland demnach einem "Flickenteppich".

Einige Beispiele: Während Ganztagsschule für hessische Schüler bis zu 22 Extra-Wochenstunden bedeutet, sind es in vielen ostdeutschen Ländern nur vier. Die von den Ländern für zusätzliches Fachpersonal bereitgestellten Mittel unterscheiden sich ebenfalls dramatisch. So erhält eine Grundschulklasse pro Jahr im bundesweiten Schnitt 23 000 Euro für zusätzliches Personal. Am wenigsten investiert Bremen mit 9000 Euro, am meisten das Saarland mit 52 000 Euro. Außerdem: Zusätzliche Lernzeit und pädagogische Kräfte sind in vielen Ländern nicht aufeinander abgestimmt. Eine gute Relation "bieten in allen Stufen gebundener Ganztagsschulen lediglich Berlin und das Saarland".

Kein Kultusministerium will sich fehlende Förderung vorwerfen lassen

Fehlende Förderung will sich freilich niemand vorwerfen lassen. Als Grund für das schlechte Abschneiden nennt das sächsische Kultusministerium, dass die Schulen ihren Schülern hauptsächlich freiwillige Angebote unterbreiteten. Man habe im Bund immerhin die zweithöchste Quote ganztags betreuter Schüler. Und Bremens Senatorin Claudia Bogedan (SPD), derzeit Präsidentin der Kultusministerkonferenz, nennt die Daten "zum Teil schlecht recherchiert". Das pädagogische Personal sei nicht komplett gezählt worden. "Das ist ärgerlich, weil es das Gesamtbild verzerrt."

Für die Studie prüften die Autoren ausschließlich gebundene Ganztagsschulen. Gebunden heißt: Alle Schüler lernen über den Tag gemeinsam, verbindlich, an mindestens drei Wochentagen für je mindestens sieben Stunden. Sogenannter offener Ganztag mit freiwilligen Nachmittagsangeboten blieb außen vor, wegen der schlechten Datenbasis. Dort aber herrscht die höchste Nachfrage: Etwa jeder dritte Schüler in Deutschland nimmt heute ein Ganztagsangebot wahr; nur knapp die Hälfte davon als Pflichtstunden. Wenn schon im geregelten Ganztag solche Mängel vorherrschen, wie ist es dann erst um die Qualität in offenen Angeboten bestellt?

Wo Ganztag draufsteht, ist nicht immer Ganztag drin

"Die Ganztagsschule hat das Potenzial, Nachteile, die Kinder im Elternhaus haben, abzufedern", sagt Bildungsforscher Klemm. Er favorisiert gebundene Angebote, um den Unterricht zu entzerren und Bildungschancen zu verbessern. Ein Auslöser für den Trend zum Ganztag war die erste Pisa-Studie und der "Schock" darüber, dass Deutschlands Jugendliche international Mittelmaß sind. Man setzte auf ganztägiges Lernen als Gegenrezept, die damalige rot-grüne Bundesregierung legte ein Ausbauprogramm auf, investierte vier Milliarden Euro. Hinzu kam, dass immer öfter beide Elternteile arbeiten, und die Kinder in der Zeit betreut sein müssen.

Umso unzufriedener ist Wolfgang Pabel. Er ist Vize-Chef des Bundeselternrats, die Dachorganisation vertritt Mütter und Väter von acht Millionen Schüler. "Wir brauchen vergleichbare pädagogische Mindeststandards und zwar bundesweit", sagt er. Noch entscheide jedes Land nach Kassenlage. Mit dem Ausbau der Ganztagsschulen hätten viele Eltern hohe Erwartungen verbunden. Chancengerechtigkeit ist ein großes Wort, und es fiel oft, wenn von Ganztagsschulen die Rede war. Und die Realität? Eltern-Lobbyist Pabel sieht vielerorts nur eine "Verwahrung" der Kinder.

Standards fordern auch Lehrergewerkschaften wie der Verband Bildung und Erziehung: "Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass die Bildungschancen eines Kindes noch immer stark abhängig sind vom Bundesland." Auch die Autoren der Studie halten Einheitlichkeit für unverzichtbar. Das ist in der Praxis nicht leicht, vor allem wegen unterschiedlicher Formen von Ganztag.

Der Trend geht weniger zur Ganztagsschule mit verpflichtendem Unterricht als zu flexiblen Betreuungsmöglichkeiten. Ideen an den Schulen für gute Angebote gibt es. Doch bei einer Umfrage unter Schulleitern gab jeder vierte an, dass sein Ganztagsschulkonzept quasi nur auf dem Papier bestehe - weil es mit den vorhandenen Mitteln für Personal und Räume kaum umsetzbar sei. "Wo an Deutschlands Schulen Ganztag draufsteht, ist leider nicht immer Ganztag drin", bilanziert Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Stiftung und früherer Hamburger Wissenschaftssenator.

Bisher hat das Modell die Erwartungen vielerorts enttäuscht. Wer am Nachmittag an der Schule ist, wird auch nicht unbedingt klüger. So lässt sich eine Mammut-Studie zusammenfassen, die Forscher im Auftrag des Bundesbildungsministeriums erst kürzlich präsentiert haben. Sie hatten Kompetenzen im Lesen und in Naturwissenschaften geprüft, vor und nach Teilnahme an fachlich orientierten Ganztagsangeboten - und sie mit denen jener Mitschüler verglichen, die nur vormittags an der Schule waren. Ergebnis: Die Ganztagsschüler erzielen keine besseren Leistungen. Immerhin waren sie motivierter, schrieben die Wissenschaftler. Aber auch diese Studie warnte: Die Qualität muss besser werden.

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