Luxemburg:Vorglühen

In der luxemburgischen Provinz entstehen internationale Studiengänge und neue Institute, die Erwartungen sind hoch. Doch braucht ein Land mit der Einwohnerzahl von Essen eine eigene Universität? Ein Besuch.

Von Gianna Niewel

Über den Bauzäunen hängen Planen, dahinter türmt ein Bagger Schutt. Hinter Sperrholzplatten schleppen Männer Säcke mit Zement, sie zersägen Stelen. Über allem kreisen Kräne. Die Baustelle ist gut versteckt, aber nicht gut genug. Es staubt, es rumort. Auf eine Folie, die Dichtungsplatten zusammenhält, hat jemand in Großbuchstaben ihren Bestimmungsort gekritzelt: "Maison du Livre" - Haus der Bücher. Noch erinnert das Gebäude, das einmal eine Bibliothek sein soll, an das, was es einmal war: eine Möllerei, der Teil eines Stahlwerks, in dem Koks und Erz vermischt wurden.

Das luxemburgische Belval, etwa zwanzig Autominuten südlich der Hauptstadt, nahe der Grenze zu Frankreich. Hier pochte auf einer Fläche von knapp 200 Hektar das industrielle Herz des Landes, Hochöfen, Sinteranlagen, die schwere Industrie. Erz und Kohle wurden von Belval aus nach Norden gepumpt, wer hier lebte, lebte von Eisen und Stahl. Zwei der ehemals sechs Hochöfen ragen noch immer in den Himmel, Hochofen A und B, sie sind knapp 90 Meter hoch. Aber nichts kracht mehr, nichts wummert - und wenn doch, dann sind es nur die Maschinen der Bauarbeiter. Seit 1997 ist der letzte Hochofen dicht. Auf der ehemaligen Industriebrache steht nun die erste und einzige öffentliche Universität des Großherzogtums Luxemburg. Mittlerweile ist das erste Semester vorbei, und die Baustellen sind überschaubar in Zahl und Größe. Wer hier lebt, soll fortan von Forschung und Lehre leben.

Eros Ramazzotti war schon hier; ansonsten ist das bunte Leben der Kleinstadt noch bescheiden

Braucht ein Land wie Luxemburg, das in etwa so viele Einwohner hat wie die Stadt Essen, überhaupt eine eigene Universität? Lange war um diese Frage gerungen worden. Doch die Studenten zum Studieren ins Ausland zu schicken, barg die Gefahr, dass sie nicht zurückkommen, wenn Staatsexamen und Master bestanden sind. Also der Entschluss: Ja, das Großherzogtum will eine eigene öffentliche Universität. Aber wo? Die Stadt Luxemburg, das sind der Europäische Gerichtshof, der Europäische Rechnungshof, Teile der Europäischen Kommission. Dann unzählige Investmentbanken mit Türmen aus Glas. Hohe Gehälter, steile Karrieren. Von Montag bis Freitag pulsiert die Stadt, gerade mittags sind die Boulevards verstopft, ein hektisches Gewusel. Die neue Universität sollte ein Gegengewicht zu diesem Zentrum sein, das bislang immer auch für das gesamte Land stand. Eine Industriebrache in der Provinz kam da gelegen.

Gegründet wurde die Universität bereits 2003, damals noch an drei Standorten im Land. Eine Übergangslösung. Im vergangenen September wurde dann der neue Campus Belval eingeweiht; Hörsäle und Seminarräume, alles Nötige war fertig. Der Kern dieses Campus ist das "Maison du Savoir", was "Haus des Wissens" heißt. Die Gänge sind weit, die Wände puristisch karg in Grau und Schwarz, Teppiche dämpfen die Schritte, die Lampen an der Decke sehen aus wie Ufos. Eine Rolltreppe bringt die Studenten in die Cafeteria. In jeder Etage zeigen Bildschirme, wann und wo welcher Kurs läuft: Theorie der Interkulturalität, Salle 4.520, Luxembourgeois, Language Center.

LUXEMBOURG VISIT OF THE MINISTER PHILIPPE HENRY ONT THE BELVAL SITE

Wer einst im Süden des Großherzogtums lebte, der lebte von Eisen und Stahl. Fortan sollen die Luxemburger und internationales Publikum von Wissenschaft leben. Esch-sur-Alzette, Stadtteil Belval, ist im Umbruch.

(Foto: Philippe Bourguet/laif)

"Maison du savoir", das lässt sich auch mit "Haus der Weisheit" übersetzen; ein Name, der den ambitionierten Zielen entspricht. Hier, in Belval, soll die Elite des Landes gepäppelt werden, die Uni versteht sich als Forschungsstandort: Es gibt deutlich mehr Master- als Bachelorstudiengänge, Biomedizin, europäisches Recht, Informations- und Kommunikationstechnologie. Sieben Doktorschulen. Auf dem Campus forschen etwa international renommierte Biomediziner daran, dass Parkinson früher erkannt werden kann. Hier sitzt die Royal Bank of Canada (RBC). Insgesamt 960 Millionen Euro lässt sich der Staat diesen Campus bis 2018 kosten.

Auch mit deutschen Köpfen: Der Rektor, der Ökonom Rainer Klump, amtiert seit Anfang 2015, er war zuvor Vizepräsident der Universität Frankfurt. Oder Georg Mein. Er ist der Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät, kariertes Hemd, beigefarbener Anzug. Er hat in Bonn promoviert und in Bielefeld habilitiert, und als er 2006 nach Luxemburg kam, raunte die deutsche Lokalpresse schon über die "Turbo-Uni" im Nachbarland, dem "neuen Wissenschaftsmotor". Diesen Motor sollte Mein zum Laufen bringen, indem er das Institut für Germanistik aufbaut. Kurspläne entwerfen, Dozenten anheuern ist das eine. Doch wie formt man die Seele einer Uni?

"Wir erleben hier ohne Frage eine Laborsituation", sagt Mein. Gewachsene deutsche und französische Unis wie die Eberhard-Karls-Universität in Tübingen oder die Sorbonne in Paris könnten sich wohl auf jahrhundertealte Tradition berufen, auf Absolventen wie den Schriftsteller Christoph Martin Wieland oder die Philosophin Simone de Beauvoir. Aber diese Tradition gehe allzu oft mit der Verpflichtung einher, nichts zu verändern. Hier, in Belval, sei der Fokus auf die Zukunft gerichtet, und genau das mache diese europäische Universität auf luxemburgischem Boden aus. Zukunft, das heißt für ihn und seine Kollegen: Smart Solutions, SAP, E-Learning-Plattformen. Internationale Exzellenz, interdisziplinäre Forschung; ein Teil der Studenten etwa lernt auf einem kleinen Campus in der Stadt, weil sie von dort zu den Institutionen der Europäischen Union spazieren können. Das alles, sagt Mein, schätzten die Dozenten, die ihre Kurse auch deshalb nach ihren Vorlieben gestalten können, weil das vor ihnen noch keiner getan hat.

Viele Studiengänge sind gleich mehrsprachig angelegt. "Das ist wichtig, damit unsere Studenten nach Master oder Staatsexamen in einem globalisierten Arbeitsmarkt problemlos anfangen können", sagt Mein. Zumal in einem Land wie Luxemburg mit einem Ausländeranteil von 45 Prozent. Hier, zwischen Beiler im Norden und Düdelingen im Süden, leben knapp 550 000 Menschen, darunter allein 92 000 Portugiesen (ehemalige Gastarbeiter - die größte Minderheit im Land), viele Italiener, einige Briten. Und so sind mehr als die Hälfte der Studenten an der Uni nicht aus Luxemburg. Sicher, viele kommen aus der Großregion, auf dem Parkplatz stehen Autos mit Trierer und Saarbrücker Kennzeichen, dann französische, belgische. Insgesamt aber stammen die Studenten hier aus 115 Ländern. Die meisten kommen nicht nur nach Belval, um Materialwissenschaften oder Erziehungswissenschaften auf hohem Niveau zu lernen, sondern auch, weil sie das hier im internationalen Kontext tun können.

Doch die Männer und Frauen sollen nicht nur an die Uni pendeln, um dort zu lernen. Sie sollen in Belval bleiben. Langfristig erwartet der Ort etwa 7000 Studenten und 3000 Forscher. Und deshalb verändert sich nicht nur der Campus - um ihn herum entsteht ein komplett neues Stadtviertel. Auf einer Fläche von 15 Hektar werden in der "Cité des Sciences", der Stadt der Wissenschaften, Studentenwohnungen gebaut; das WG-Zimmer gibt es ab 360 Euro. 220 Leute sind bereits eingezogen, manche Häuser sind noch im Rohbau. 2017 soll auch hier alles fertig sein.

Damit Studenten und Dozenten nicht nur zwischen dem Hörsaal und ihrer Wohnung hin- und herlaufen, sondern auch den Ort beleben, sich wohlfühlen, gehört zum Gelände die Rockhal, eine Konzerthalle, Eros Ramazzotti war schon hier. Zudem eine Shopping-Mall, kleine Cafés, ein neuer Bahnhof empfängt die Studenten, er sieht von außen aus wie eine weiße Raupe, drinnen stehen Palmen. Von hier können sie am Wochenende nach Luxemburg fahren; in Belval selbst fehlt es noch an Clubs und Bars. Ein Sportzentrum wird geplant.

Dreisprachige Studiengänge gibt es hier - gerade das lässt junge Leute aber aufhorchen

"Das Drumherum ist noch ein Problem", sagt eine junge Deutsche. Sie ist gerade auf dem Weg zu einer Vorlesung, Psychologie, drittes Semester. Als die Uni im vergangenen Jahr nach Belval gezogen ist, ist sie mitgezogen. Nun wohnt sie in einer der Studentenwohnungen, 590 Euro Miete, zehn Minuten Fußweg. "Man spürt schon, wie international die Uni ist", sagt sie, und deshalb sei sie hier. Ihr Studiengang ist dreisprachig, Seminare und Vorlesungen hat sie auf Englisch und Deutsch, für die nächste Übung schleppt sie einen Ordner mit Fragebögen auf Französisch. Abends, erzählt sie, sitze sie oft noch am Computer, an den Wochenenden fährt sie meist nach Hause. "Hier ist ja kaum was los", sagt sie. Stille. "Noch." Man könne schließlich nicht einfach so eine Kleinstadt aus dem Boden stampfen, wo vorher nur Schutt und Gemäuer waren. Es sei nur natürlich, dass das dauert.

Nur Schutt und Gemäuer? Denis Scuto sieht das anders. Er ist Historiker, Industriekultur und die Geschichte Luxemburgs sind seine Schwerpunkte. In Belval überschneiden sie sich. Hier ist er eine Art Wächter, er hütet das Erbe der Stahlindustrie. Und er wirkt besorgt. Die ehemaligen Granulierbecken etwa mussten weichen. Der Highway, eine Verbindungsstraße für die Eisenwaggons zwischen den Hochöfen, wurde erst abgerissen und dann in Teilen neu gebaut. Auch der Verbleib der Gebläsehalle aus dem Jahr 1912 ist unklar. Auf zehn Jahre mietet sie das luxemburgische Kulturministerium. Aber danach? Scuto zuckt die Achseln. "Es ist schon richtig", sagt er "in ehemaligen Hüttenstädten wie Völklingen oder Duisburg steht der Denkmalschutz stärker im Fokus." Dort wird auf dem Gelände aber auch keine Uni gebaut.

Und so bemühen sich die Luxemburger, Neues zu schaffen und Altes zu bewahren: Architekturwettbewerbe wurden ausgeschrieben, Pläne durchdacht. Die vermoosten Betonpfeiler stehen noch, über die früher die Erzloren fuhren. Auch die Wasserbassins sind erhalten, hier wuchern Gräser. Die neuen Gebäude in Grau, die gelben Sonnenblenden, dann die Banken in knalligem Rot - das alles wirkt dagegen futuristisch chic. Aber auch hier müsse noch getüftelt werden, sagt Scuto: Die Idee, die Gebäude mit Geraden zu verbinden, habe auf dem Papier geordnet ausgesehen. Ein Campus fast wie ein Schachbrett. In der Praxis pfiff dann der Wind zu harsch durch jene langen Fluchten. Jetzt stehen dem Wind kleine Birken im Weg. Ihre Stämme sind noch schmal, sie tragen keine Blätter, es ist ja kaum Frühling. Auch sie brauchen Zeit.

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