Kritik an Reformpädagogik:"Jedes Tierheim mit so viel Gewalt wäre geschlossen worden"

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Plakate an einer Straße nahe der Odenwaldschule in Hessen mahnen, das dort Geschehene nicht zu vergessen. (Foto: dpa)

Ein neues Buch warnt davor, die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule als "peinlichen Betriebsunfall" abzutun. Die Autoren gehen noch weiter und stellen die Ideen der Reformpädagogik grundsätzlich infrage - so auch das Postulat einer "Nähe" zum Kind.

Von Tanjev Schultz

Durch den Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule ist die gesamte Reformpädagogik in die Defensive geraten. Der Zürcher Pädagogik-Professor Jürgen Oelkers tut sich als besonders hartnäckiger Kritiker hervor. Er attackiert die Wohlfühl-Rhetorik von Reformpädagogen, die für eine "kinderfreundliche" Schule kämpfen. Mit seinem Kollegen Damian Miller hat er einen Sammelband herausgegeben, der durch die jüngsten Ereignisse an der Odenwaldschule zusätzliche Brisanz gewinnt.

Ein Lehrer musste die Schule verlassen, weil gegen ihn wegen Besitzes von Kinderpornografie ermittelt wird. Nun wird diskutiert, ob das Internat noch eine Zukunft hat. Der Titel des Buches, das kurz vor Bekanntwerden des Vorfalls erschien, passt dazu: "Reformpädagogik nach der Odenwaldschule - Wie weiter?" (Beltz Juventa Verlag; 24,95 Euro). Die Herausgeber warnen davor, die sexualisierte Gewalt in dem Internat, in dem in früheren Jahren mehr als 130 Schüler Opfer von Übergriffen wurden, "als peinlichen Betriebsunfall" abzubuchen und wieder zur Tagesordnung überzugehen. "Jedes Tierheim mit so viel Gewalt wäre geschlossen worden", sagt Miller. Bereits 1999 hatte es Berichte über Übergriffe an der Schule gegeben.

Es geht den Herausgebern aber nicht nur um diese eine Schule. Sie greifen die Reformpädagogik insgesamt an, etwa die Vorstellung, dass eine "Nähe" zum Kind bestehen müsse und die persönliche Beziehung zwischen Lehrern und Schülern entscheidend sei. Verschwiemelte Konzepte wie der "pädagogische Eros" haben in der Tat großen Schaden angerichtet und Pädokriminellen als Rechtfertigung gedient.

Grenzverletzungen in "totalen Institutionen"

Die Autoren des Bandes zeigen, wie leicht in "totalen Institutionen", zu denen Internate gehören, Grenzen verletzt werden und wie Reformpädagogen ihre Ideale verraten haben. In dem Buch kommen auch Opfer zu Wort. Die Schule geht mit einem Anwalt gegen einen der Beiträge vor.

Der ehemalige Odenwaldschüler Andreas Huckele schreibt, Lehrer müssten die eigenen Grenzen und die der Schüler spüren und respektieren können. Er nennt es die Fähigkeit, "mit sich selbst und mit anderen in Beziehung zu sein". Das erinnert nun, ob gewollt oder nicht, durchaus an reformpädagogische Einsichten. Womöglich schießen die Herausgeber mit ihrer Fundamentalskepsis ja auch über das Ziel hinaus. Reformpädagogen haben eben nicht unrecht, wenn sie Wert auf die soziale Seite des Lernens legen. Pädagogen sollten die Beziehungsebene reflektieren können.

Schwammige Slogans vermeiden

Christoph Maeder von der Pädagogischen Hochschule Thurgau weist darauf hin, dass die Reformer, indem sie sich gegen die alten Drillschulen stellten, "eine berechtigte Kritik an der Schule als eine Kaserne oder eine Fabrik" formuliert haben. Er will seinen eigenen Beitrag deshalb nicht als pauschale Verdammung einer Tradition verstanden wissen. Miller hinterfragt die auffällige Neigung von Reformpädagogen, sich rhetorisch gegen Kritik zu immunisieren und das Publikum zu manipulieren. Er plädiert dafür, schwammige Slogans zu vermeiden und sich einer ehrlicheren Sprache zu bedienen. Diese müsse sich auf Gegenstände beziehen, "die sich empirisch erfassen und überprüfen lassen".

Konsequent umgesetzt, würde das allerdings dazu führen, den Diskurs über Bildung und Erziehung normativ zu entkernen. Ob das überhaupt machbar und wünschenswert wäre, ist zu bezweifeln.

Was die Reformpädagogik so angreifbar gemacht hat, ist schließlich nicht ihre predigerhafte Rhetorik, sondern die Kluft zwischen Rhetorik und Praxis. Man kann und muss nun natürlich auch fragen, welche Ideen fragwürdig, überzogen, zu abgehoben oder sogar gefährlich waren. Aber sobald man das tut, steckt man schon wieder mittendrin in einer Diskussion über Werte und Normen.

© SZ vom 28.04.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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