Schule:Hilfe für Hochbegabte

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Wer in eine Klasse für Begabte aufgenommen werden will, muss mehrere Tests bestehen und auch mit seinem Sozialverhalten überzeugen. In der Klasse sollen die schlauen Kids - hier im Landesgymnasium für Hochbegabte (LGH) in Schwäbisch Gmünd - dann besser gefördert werden. (Foto: Franziska Kraufmann/dpa)

Noch in den 80ern galt Begabtenförderung vielen als reaktionär, heute haben selbst SPD-regierte Länder Programme für Spitzenschüler. Aus gutem Grund?

Von Ralf Steinbacher

In der Grundschule war Lukas mit dem Stoff unterfordert. Also beschäftigte er sich mit Material aus höheren Klassen oder half seinen Mitschülern. Seine Lehrerinnen bekamen bald mit, welches Potenzial in dem Jungen steckte, und ermöglichten ihm, einmal die Woche an einer anderen Schule am Entdeckertag für Hochbegabte teilzunehmen. Dort lernte der Grundschüler Chinesisch und Kung-Fu und begeisterte sich für Naturwissenschaften.

Als er schließlich aufs Gymnasium konnte, hatte er Glück, das Otto-Schott-Gymnasium (OSG) in Mainz hatte genau das richtige Angebot für ihn. Dort werden Kinder, die hochbegabt oder besonders leistungsfähig sind, in einer speziellen Klasse gefördert. "Total genial" nennt Lukas, der in Wirklichkeit anders heißt, die Möglichkeiten, die sich ihm da eröffneten. Von Langeweile keine Spur, "die Lehrer haben uns gefordert und gefördert". Der Stoff wurde schneller vermittelt, die Schüler konnten tiefer in die Materie einsteigen. Heute ist Lukas 16, er spricht Französisch, Englisch, Russisch, Spanisch und Chinesisch und peilt das deutsch-französische Abitur Abibac an.

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Begabtenförderung, das galt in den 80er-Jahren noch als Schimpfwort. Da war von einer Selektion der Gesellschaft die Rede, manche beschworen die Lehren aus dem Faschismus, ein Hamburger Senator verglich Begabtenförderung mit der "chauvinistischen Vergötzung der Hochleistung" durch die Nazis. Gerade für Linke war das Thema tabu, weil unvereinbar mit dem Gleichheitsgrundsatz; die CDU forderte dagegen die "Elitebildung".

Erst vor etwa 15 Jahren deutete sich ein Umdenken im Bildungssystem an. Zunehmend setzte sich die Erkenntnis durch, dass gleiche Bildung für alle keine Probleme löse. Mittlerweile können sich sowohl links als auch konservativ regierte Länder darauf einigen, dass Schüler je nach ihren Fähigkeiten individuell gefördert werden sollten. Auch Hochbegabte.

Statistisch gesehen hat jeder 50. Schüler einen IQ von mindestens 130

Alle Länder haben heute Programme für ihre Spitzenschüler, auch wenn es in der Umsetzung Unterschiede gibt. SPD-Kultusminister setzen eher auf einen integrativen Ansatz. Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe etwa sagt: "Begabtenförderung muss zur Regelaufgabe in jeder Schule und in jeder einzelnen Klasse werden." Länder wie Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben spezielle Förderklassen geschaffen. Doch welchen Weg die Länder letztlich bevorzugen, sei eigentlich belanglos, sagt Ingmar Ahl, Vorstand der Karg-Stiftung, die sich seit Langem für Hochbegabtenförderung einsetzt: "Hier wie dort geht es um die Kernkompetenz in der individuellen Förderung."

Als hochbegabt gelten Schüler mit einem Intelligenzquotienten (IQ) von mindestens 130. Das ist statistisch gesehen jeder 50. Schüler, als leistungsstark gelten mehr. Es gibt zahlreiche Intelligenztests, mit denen der IQ ermittelt werden kann. Auf eine Hochbegabung deutet ein gutes Gedächtnis hin, ein für das Alter ungewöhnlicher Wortschatz und ein besonders gutes sprachliches Ausdrucksvermögen. Wer in eine Förderklasse aufgenommen werden will, muss nicht nur mehrere Tests bestehen, sondern im Schnupperunterricht auch mit seinem Sozialverhalten überzeugen. Doch wie sinnvoll sind solche Klassen eigentlich?

Der Chemie-Lehrer Ingo Schnell leitet die Schule für Hochbegabtenförderung am OSG in Mainz. Schnell hält es für geboten, Klassen speziell für Hochbegabte zu bilden, "damit wir zu einer gewissen Grundhomogenität kommen", mit der man besser arbeiten könne. Denn auch die Hochbegabten seien nicht alle gleich: Da gebe es "breitbandig" hochbegabte Schüler, Höchstbegabte oder Inselbegabte: "Es gibt Schüler, die schauen sich einen Text an und haben ihn dann im Kopf, andere hassen Vokabellernen wie die Pest."

Auch Irene Sonnenberg hat als Latein- und Geschichtslehrerin ihre Erfahrungen mit schlauen Kids. Sie leitet die Schule für Hochbegabtenförderung am Auguste-Viktoria-Gymnasium (AVG) in Trier: "Aus unserer Perspektive entwickeln sich die Kinder in den Förderklassen gut und lernen erfolgreich." Tendenziell seien sie beim Abitur unter den Besten. Auch Ingo Schnell bestätigt überdurchschnittliche Abschlüsse.

Das überrascht nun nicht, könnte man sagen - gäbe es da nicht den "big fish little pond"-Effekt" (BFLP). Der besagt in der Pädagogik, dass Schüler in einer Klasse mit leistungsschwächeren Mitschülern - als großer Fisch im kleinen Teich - motivierter sind. Im Umkehrschluss bedeutet das: Top-Schüler bauen ab, wenn sie nicht mehr die Klassenbesten sind, sondern plötzlich in einer Klasse mit anderen Begabten. Aber trifft das auch auf Kinder zu, die aktiv in eine Förderklasse wollen?

Das untersucht Professor Franzis Preckel, Leiterin des Lehrstuhls für Hochbegabtenforschung und -förderung im Fach Psychologie an der Universität Trier. Sie arbeitet bei ihren Studien mit "statistischen Zwillingen" aus Regelklassen, die mit Schülern in Begabtenklassen vergleichbar sind. Ihr Resümee spricht für die Förderklasse. Weder verschlechtere sich die Motivation der Schüler noch deren Leistung, in Mathe seien sie sogar besser als ihre "Zwillinge". Und nicht zuletzt: "Wohlbefinden und Lernklima ist in Förderklassen besser."

Auch Irene Sonneberg vom AVG Trier kennt den BFLP-Effekt, beobachtet bei ihren Schülern aber das Gegenteil: "Die spornen sich eher gegenseitig an." Nicht selten komme es vor, dass ihre Schüler einmal mehr wissen als sie, gerade Ältere verfügten häufig über großes Spezialwissen. Die binde sie dann als Experten ein. In den höheren Klassen, sagt Ingo Schnell, müsse man als Lehrer "echt fachkompetent sein". Doch es mache ihm Spaß, mit schlauen Menschen zu arbeiten, die mehr Diskussionsbedarf hätten, "intellektuell tiefer einsteigen wollen und viele weiterführende Fragen stellen".

Und die Schüler? Lukas vom OSG Mainz, der jetzt im Kurssystem in der Oberstufe ist, erzählt, er habe sich in der Klasse gleich wohlgefühlt, weil dort alle Kinder einen hohen IQ und Spaß am Lernen gehabt hätten "und man in keine Rolle als Klassenstreber oder Nerd gedrängt wurde". Die 15-jährige Clara (Name geändert) vom OSG stimmt zu: "Wir haben uns glücklich geschätzt, in der Förderklasse eine Arbeitsatmosphäre vorzufinden, in der man nicht als Streber oder uncool galt, nur weil man gerne gelernt hat."

© SZ vom 04.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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