Steigende Zahl der Tierversuche:Es geht um Ethik - und ums Geld

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Im Zentrum für Experimentelle Molekulare Medizin in Würzburg, kurz ZEMM, züchten Wissenschaftler in einem eigenen Bereich spezielle Mauslinien. (Foto: ZEMM Würzburg)

Fische, Schafe, Ziegen und Schweine - die Zahl der eingesetzten Versuchstiere steigt Jahr für Jahr. 2012 waren es 3,1 Millionen Wirbeltiere. In der Versuchshochburg Würzburg kämpfen seit Jahren Kritiker gegen die Labore, doch sie haben gegen die Branche wenig Chancen.

Von Stephanie Kundinger, Würzburg

Heike Wagner tritt mit ihren Crocs über die Markierung auf dem Boden. Sie trägt einen hellblauen Overall, weiße Handschuhe aus Latex und eine grüne Haube auf dem Kopf. "Ab hier herrschen Operationsbedingungen", erklärt die promovierte Tierärztin und zieht ihren Mundschutz fest.

Die große, schlanke Frau geht einen gelben Flur entlang, Schritt für Schritt, und passiert mehrere Türen auf beiden Seiten. Vor einer bleibt sie stehen: "Das ist unser Zuchtbereich", sagt sie und blickt durch ein rundes Guckloch aus rotem Glas ins Innere der Kammer: Auf mehreren Regalen stehen kleine, durchsichtige Käfige, braune und weiße Mäuse huschen darin herum. "An ihnen wird nicht geforscht", erklärt die Veterinärin. Hier züchten etwa Wissenschaftler spezielle Mauslinien, die sie für ihre Projekte brauchen.

Entwicklungen für den Menschen

Denn die Mäuse leben im Zentrum für Experimentelle Molekulare Medizin in Würzburg, kurz ZEMM, einem 1000 Quadratmeter großem Versuchslabor unter der Erde, mitten in einem Wohngebiet. An mehr als 10.000 Tieren betreiben die Menschen hier Stammzellenforschung oder suchen nach neuen Erkenntnissen im Kampf gegen den Krebs. Sie bestrahlen die Tiere, ähnlich wie bei einer Chemotherapie, oder transplantieren ihnen Stammzellen in den Schwanz. Wagner denkt nach. Natürlich hinterfrage sie viel in ihrem Beruf. Doch sie habe sich bewusst für die Forschung entschieden: "Und ich denke dabei an die Menschen, die von der medizinischen Entwicklung profitieren."

Heike Wagner arbeitet in einer Branche mit Zukunft, so erscheint es jedenfalls. Einmal im Jahr, meist im Herbst, veröffentlicht das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz die Versuchstierstatistik. Dann stellen nicht nur Tierschützer fest, dass die Zahl der "verbrauchten Tiere" nahezu in allen Bundesländern steigt: Der aktuellen Statistik zufolge wurden 2012 knapp 3,1 Millionen Wirbeltiere in Tierversuchen oder zu anderen wissenschaftlichen Zwecken eingesetzt. Das sind fast 170.000 Tiere mehr als im Jahr davor, und gut eine Million mehr als vor zehn Jahren.

In München entsteht ein neues Forschungszentrum

Der Deutsche Tierschutzbund hat die Zahlen genauer untersucht und festgestellt: Elf Prozent aller Tierversuche finden in Bayern statt, und es könnten bald noch mehr werden. In München entsteht am Klinikum Rechts der Isar ein neues Forschungszentrum der Technischen Universität mit mehr als 6000 Käfigen für Mäuse und Ratten. Die Ludwig-Maximilians-Universität baut in Großhadern ebenfalls ein neues Zentrum für Biomedizin, rund 9000 Käfige sollen darin ihren Platz finden.

Fast 300 Kilometer müsste Angela Iqbal zurücklegen, um in München gegen die geplanten Labore zu protestieren. Um sich zu engagieren, brauche die Würzburger Tierschützerin jedoch gar nicht so weit zu fahren, sagt sie, schließlich lebe sie selbst in einer Versuchsstadt. Der Verein "Ärzte gegen Tierversuche" hat kürzlich eine Statistik veröffentlicht mit den Versuchshochburgen in ganz Deutschland: "Würzburg liegt auf Platz acht", sagt Iqbal. Die Regierung von Unterfranken meldet für das Jahr 2012 mehr als 61.000 verbrauchte Tiere. Meist sind es Nager, aber auch Fische, Schafe, Ziegen und Schweine.

Iqbal sitzt in einem Café in der Innenstadt, vier Kilometer vom ZEMM entfernt. Von innen habe sie die Einrichtung noch nie gesehen. "Uns gibt man verständlicherweise keinen Zugang", sagt die 43-Jährige, und trinkt ihren Kamillentee. Mit "uns" meint sie die rund 70 Mitglieder im Verein "Menschen für Tierrechte Würzburg", dessen stellvertretende Vorsitzende sie ist.

Seit 20 Jahren setzt sie sich für eine tierversuchsfreie Forschung ein: nicht nur aus ethischen Gründen, weil sie davon überzeugt ist, dass der Mensch nicht das Recht hat, eine andere Spezies für sich auszubeuten. "Die Versuche schaden dem Fortschritt außerdem." Der menschliche Körper sei zu komplex, um ihn mit dem Organismus einer kleinen Maus zu vergleichen. Verfahren mit menschlichen Gewebekulturen, Bakterien oder Computermodellen hält sie deshalb für aussagekräftiger - und kostengünstiger. Sie seufzt. Denn gerade wegen des Geldes sei es schwer, Tierversuche zu reduzieren: "Es gibt wahnsinnig viele Branchen, die daran Geld verdienen."

Immer wieder protestieren Tierschützer gegen die Tierversuche in Laboren. (Foto: picture alliance / dpa)

Die Tierschützer geben nicht auf

Allein in Würzburg gibt es nach Angaben der Überwachungsbehörde 21 Einrichtungen, in denen an Tieren geforscht wird. Sie beschäftigen Hunderte Arbeitnehmer: Tierpfleger, technische Assistenten, Mediziner. Im unterfränkischen Sulzfeld sitzt die Firma Charles River, die nach eigenen Angaben in 14 Ländern vertreten ist. Die Mitarbeiter züchten Versuchstiere auf Bestellung und beliefern Labore, darunter auch das ZEMM. Und es gebe sogar Firmen, die sich auf die Herstellung von Versuchstierkäfigen spezialisiert haben, sagt Iqbal. Eine große Lobby stecke hinter dieser Branche, doch die Tierschützerin will nicht aufgeben. "Uns ist klar, dass es nicht von heute auf morgen geht", sagt sie, "aber jeder kleine Schritt ist viel."

Viele Schritte muss auch Albrecht Müller tun, wenn er von seinem Büro im zweiten Stock in den Tierhaltungsbereich des ZEMM gehen will. Das komme aber nicht sehr oft vor, sagt der Professor an der Würzburger Uni, "vielleicht zweimal im Jahr". An seinem Arbeitsplatz blättert er in den Unterlagen der Versuchstierstatistik. Dort riecht es nicht nach Einstreu und Desinfektionsmittel, sondern nach Holz.

Die Zahlen werden wohl steigen

Müller ist der Akademische Leiter der Forschungseinrichtung. Er betreut rund 15 Studenten und Doktoranden, die Grundlagenforschung mit Stammzellen betreiben. Auch er beobachtet den Anstieg an Tierversuchen, denkt dabei aber nicht an wirtschaftliche Interessen: Tierversuche seien teuer, im Unterhalt koste eine Maus am Tag gut 40 Cent, und in der Regel dauere ein Forschungsprojekt mehrere Monate, manchmal sogar Jahre. "Man wägt deshalb sehr gut ab, wann man ins Tiermodell geht."

Müller begründet den Anstieg eher mit der Möglichkeit der präziseren Fragestellung in der Wissenschaft, neuen Technologien und gesetzlichen Grundlagen. Die Zahlen werden wohl weiter steigen, vermutet Müller, und auch seine Kollegin Heike Wagner denkt nicht, dass eine tierversuchsfreie Forschung realistisch ist. "Wir tun deshalb alles, um die Haltung hochwertig zu halten", sagt Wagner, und Müller schaut noch einmal auf die DIN-A4-Blätter. Im Vergleich zu den Tieren, die jährlich zu Nahrungsmitteln verarbeitet werden, sei die Anzahl der Versuchstiere gering, sagt er, und fügt hinzu. "Natürlich lässt sich Leid auf der einen Seite nicht durch Leid auf der anderen Seite rechtfertigen."

© SZ vom 13.11.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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