Mysteriöse Mordserie:Es geschah am helllichten Tag

150 ermittelnde Beamte, 3500 Spuren, 11.000 überprüfte Personen: Vor zehn Jahren wurde in Nürnberg der Blumengroßhändler Enver Simsek erschossen - er war das erste Opfer des mysteriösen "Döner-Mörders".

Olaf Przybilla

Um den Tatort zu finden, an dem Enver Simsek ermordet wurde, muss man im Südosten Nürnbergs in den Wald einbiegen. Auf einem Sportplatz trainiert dort gerade die Frauenmannschaft der Sportfreunde DJK Langwasser, der Trainer kennt den Weg. Zu Fuß steigt man durch eine Böschung an die Verbindungsstraße nach Altenfurt, dort findet sich eine Einbuchtung. Der Mann vom Frauenfußball hat Simsek immer mal wieder gesehen, er stand dort öfter und verkaufte Blumen. Warum das gerade jetzt wichtig sein soll, fragt der Trainer. Weil Simsek vor zehn Jahren erschossen wurde. Weil mit derselben Waffe, einer Ceska, danach noch acht andere Männer hingerichtet wurden. Weil an der Mordserie zu Hochzeiten mehr als 150 Beamte gleichzeitig arbeiteten, so viele wie seit den Morden der RAF nicht mehr. Und weil es bis heute keine heiße Spur gibt. "Oh", sagt der Trainer.

Bundesweite Mordserie

Mit dem Tod von Enver Simsek in Nürnberg begann vor zehn Jahren eine bundesweite Mordserie: Mit derselben Waffe, einer Ceska (ČZ 83) wurden danach noch acht andere Männer hingerichtet.

(Foto: dpa)

Im Januar wird Gerhard Hauptmannl in Pension gehen. Tag und Uhrzeit stehen bereits fest, auf der Kaiserburg in Nürnberg soll groß gefeiert werden. Gut möglich, dass sogar ein Kollege aus Ankara zum Abschiedsfest des Nürnberger Polizeipräsidenten stößt. Man hat sich über die Jahre angefreundet, im Arbeitszimmer des obersten Polizisten von Nürnberg hängt ein Wimpel von den Kollegen aus Ankara. Es gab Zeiten, da drohte in der türkischen Boulevardpresse die Stimmung zu kippen.

Und nicht nur dort: Nach dem neunten Mord mit derselben Waffe - acht Opfer waren Deutsch-Türken, einer war Grieche - demonstrierten in der Nähe des Tatorts mehrere hundert Türken. Neun tote Migranten und keine Spur, könnte das am Engagement deutscher Ermittler liegen, fragten sie. "Die Kollegen aus der Türkei", sagt der Polizeipräsident, "haben uns sehr geholfen, das aus der Welt zu schaffen."

150 Beamte, 1500 Ordner mit Ermittlungsakten, 3500 Spuren, 11.000 überprüfte Personen. Das Ergebnis fasst der Polizeipräsident in drei Worten zusammen: "Nichts, nichts, nichts." Hauptmannl starrt auf den Tisch. "Nicht mal das Schwarze unter dem Fingernagel." Man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, was er sich wünschen würde zu seinem Abschied auf der Kaiserburg.

Unter normalen Umständen wäre Enver Simsek am Tag der Tat nicht in Nürnberg gewesen. Simsek, 38, war Inhaber eines Blumengroßhandels in Hessen, von dort aus fuhr er einmal pro Woche nach Amsterdam zur Blumenbörse. Simsek beschäftigte mehrere Mitarbeiter in Franken, einer verkaufte Blumen an der Bundesstraße im Städtchen Roth, ein anderer an der Einbuchtung im Wald zwischen den Nürnberger Stadtteilen Altenfurt und Langwasser. Dieser Mitarbeiter fiel aus, Simsek musste ihn ersetzen. An einem Samstagmittag, es dürfte kurz vor Beginn der Bundesliga-Übertragung im Radio gewesen sein, wurde Simsek in seinem Mercedes-Sprinter erschossen.

Es gibt viele Theorien über die Mordserie. Eine davon zeichnet das Bild eines Killers, der am helllichten Tag einen türkischen Kleinhändler nach dem anderen hinrichtet und keine Spur dabei hinterlässt. Simsek aber, das erste Opfer der Serie, wurde auf eine Weise ermordet, die ein maßgeblicher Ermittler "regelrecht stümperhaft" nennt. Mit acht Schüssen aus zwei unterschiedlichen Waffen wurde Simsek verletzt, zwei Kugeln verfehlten ihr Ziel. Zwei Tage nach der Tat erlag er den Verletzungen. Während der Täter das Magazin leer schoss, müssen an der Ausfallstraße zwischen den zwei Stadtteilen mehrere Fahrzeuge unterwegs gewesen sein, an einem Samstag.

Von dem Tag an dauert es neun Monate, dann blickt ein Mann auf dem Heimweg ins Schaufenster einer Schneiderei im Süden Nürnbergs. Im hinteren Teil des Ladens sitzt Abdurrahim Özüdogru, blutüberströmt. Der Mörder hat ihm zwei Kugeln in den Kopf geschossen, gezielt und ohne Spuren zu hinterlassen. Özüdogru arbeitete als Maschinist bei einer großen Nürnberger Firma, in der Näherei im Eckhaus verdiente er sich nach Schichtende noch etwas hinzu. In der Umgebung um den Maffeiplatz gibt es viele solche Läden, die wenigsten scheinen richtig gut zu gehen. Der Nachmieter des Schneiders vertreibt exotische Holzwaren aus aller Welt. Er hat ein Schild ins Schaufenster gehängt, man soll ihn anrufen, wenn man etwas kaufen will.

Theorie vom diabolisch veranlagten Psychopathen

Georg Schalkhaußer sitzt in einem schmucklosen Zimmer in Nürnberg. Vor ein paar Jahren konnte man der Sonderkommission noch bei der Arbeit zusehen, es gab Räume mit imposanten Schrankwänden, auf den Akten prangte der Schriftzug "Bosporus". Allein in Nürnberg arbeiteten bis zu 60 Beamte an der Mordserie, der Chef der Ermittlungen bat oft zum Pressegespräch. Jetzt leitet Schalkhaußer die Ermittlungen, zuständig aber ist keine Soko mehr, sondern die Männer von der MK3, das ist die Mordkommission für ungelöste Altfälle. Genau genommen, sagt Schalkhaußer, kümmert sich kein Beamter mehr ausschließlich um die Mordserie. "Dazu kommt zu wenig Neues." Von Nürnberg aus aber, wo der Mörder dreimal zuschlug, werden die Ermittlungen weiterhin koordiniert, dort sitzen die Spezialisten. Schalkhaußer sagt, er habe inzwischen wohl 50 von 1500 Aktenordnern durchkämmt, seit er die Sache übernommen hat. Sind seine Leute frustriert? "Letztlich betrachten wir den Stand der Dinge als Misserfolg", sagt er, "und man kann es wohl auch nicht anders betrachten."

Nürnberg, Scharrerstraße. Hier wurde Ismael Yasar erschossen, fünf Jahre nach dem Mord am Blumenhändler Simsek. Der 50-jährige Yasar war das älteste der neun Opfer, und wenn man so will, war er auch das prominenteste. In seiner Bude verkaufte Yasar hier bis zum 9. Juni 2005 seine Döner, und glaubte man den Zetteln, die Schüler aus der benachbarten Scharrerschule nach der Hinrichtung an die Bude gepappt haben, dann waren es "die leckersten der Stadt".

Selbst fünf Jahre danach wirkt der Tatort wie frei erfunden. Die Dönerbude ist längst weg, aber man sieht noch die Gebäude, aus denen Yasars Kunden kamen: eine Bank, die Post, eine Tankstelle, ein Taxistand, ein Jugendzentrum, ein Supermarkt, die Schule und die Bundesagentur für Arbeit. Es ist wohl eine glänzende Umgebung, um Döner zu verkaufen. Aber es ist ein ungewöhnlicher Ort, um an einem Donnerstag einen Mann zu erschießen, während der Schulzeit.

In sechs Städten schlug der Täter zu. In München zweimal, einmal in Hamburg, einmal in Rostock, einmal in Dortmund, einmal in Kassel. In Nürnberg, wo die Mordserie am 9. September 2000 begann, schlug er dreimal zu, immer im Süden oder im Südosten der Stadt. Vor drei Jahren schien sich bei den Ermittlern eine zweite Theorie durchzusetzen, nicht mehr jene vom Killer, der in Ungnade gefallene Kleinhändler einer Organisation abstraft. Damals glaubte man eher an einen diabolisch veranlagten Psychopathen, möglicherweise mit einem Hass auf Migranten - und womöglich mit einem Lebensschwerpunkt in Nürnberg-Süd.

Im März 2007 wurden 100.000 Haushalte im Süden Nürnbergs per Postwurfsendung um Mithilfe gebeten. Auch im Postkasten von Günther Beckstein, damals bayerischer Innenminister, dürfte so ein Aufruf gelandet sein. Vom Waldsportplatz der DJK Langwasser - dort, wo die Mordserie begann - ist es kaum ein Kilometer bis zu Becksteins Bungalow. Während seiner Amtszeit habe ihm wenig anderes mehr Kopfzerbrechen bereitet als die Causa Bosporus, sagt er.

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