Luchse im Nationalpark Bayerischer Wald:Der unsichtbare Jäger

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Sie sind scheu, selten und man weiß wenig über sie: Luchse. Nur so viel: 16 Luchse leben im Nationalpark Bayerischer Wald. Für eine gesunde Population reicht das nicht aus.

Marlene Weiss

Wegen der Liebe setzt Milan alles aufs Spiel, sogar seine Freiheit, und die ist ein hohes Gut für einen Luchs. Aber was hätte er auch tun sollen, als er vor sechs Jahren das Weibchen seiner Wahl im Gehege fand, weiterziehen etwa? Mit einem Satz war er über den Zaun. Nur dass er das nicht auch in die andere Richtung hinbekam, trübte das Happy End: Milan saß fest. Andere konnten ihr Glück kaum fassen, als sie ihn im Gehege fanden.

Im Nationalpark Bayerischer Wald leben 16 Luchse. Für eine gesunde Population reicht das nicht aus. (Foto: dpa)

Ein wilder Luchs, der sich freiwillig ausliefert - für die Luchs-Forscher im Bayerischen Wald war das wie Weihnachten und Ostern zusammen. Schließlich gibt es zwar seit bald 30 Jahren wieder Luchse in der Gegend; die ersten wurden 1982 in den Karpaten gefangen und im Grenzstreifen der damaligen Tschechoslowakei ausgewildert. Aber die Tiere sind scheu, und noch immer weiß man wenig über sie. Nicht einmal, wie viele es sind.

Milan wurde mit dem Narkosegewehr außer Gefecht gesetzt und bekam ein Halsband mit GPS-Gerät, einem Radiosender, einem Beschleunigungssensor und einer Art Handy verpasst, dann ließ man ihn laufen. Fortan teilte er zweimal am Tag seinen Aufenthaltsort per SMS mit. Seit 2005 wurden im Nationalpark Bayerischer Wald und seinem tschechischen Gegenstück, dem Nationalpark Sumava, elf Luchse und etwa 150 Rehe mit solchen Sendern versehen. Zurzeit sind allerdings nur fünf Luchse auf Sendung, denn nach etwa einem Jahr ist die Batterie am Ende, und das Halsband fällt ab.

Aber weil in eine SMS nicht viel Information passt und der Handy-Empfang mitten in der bayerisch-böhmischen Wildnis gelinde gesagt bescheiden ist, geht Horst Burghart regelmäßig zum Datensammeln in den Wald. Wenn er bis auf 200 Meter an einen Luchs herankommt, kann er die auf dem Halsband gespeicherten Daten per Radiofrequenz herunterladen. Wie ein Wünschelrutengänger steht der freundliche Herr mit dem Filzhut zwischen den Bäumen und hantiert mit seiner unförmigen Antenne. Früher war er Waldarbeiter, jetzt ist er schon lange Luchsforscher.

Das Empfangsgerät piepst. Die Luchskatze Tessa ist nicht weit; der Download beginnt. "Zuerst dachte man, die Luchse bleiben da oben im Wald und kommen nicht runter", sagt Burghart, die Antenne für besseren Empfang emporgereckt. Die GPS-Daten haben die Wissenschaftler eines Besseren belehrt: Die Luchse laufen mitten durch Ortschaften, nur stellen sie es so an, dass man sie nicht sieht.

Ganze Nächte haben sich Burghart und seine Leute schon um die Ohren geschlagen und jede Viertelstunde einen Luchs-Sender angepeilt. Gesehen haben sie trotzdem nichts: "Die sind immer über die Straße, wenn wir gerade nicht geschaut haben", sagt Burghart. Man muss bescheiden sein, wenn man Luchse verfolgt - meist findet man nur ihre Spuren: Tritte im Schnee, ein bisschen Kot, eine Duftmarke, die den Luchshund anschlagen lässt, die Überreste eines Rehs, ein Datenpaket im Empfangsgerät.

Oder ein überbelichtetes Foto in der Fotofalle. Diese Fotofallen hat Kirsten Weingarth aufgestellt, und ihre robuste Frohnatur poltert noch etwas lauter drauflos, wenn die 27-Jährige mit dem braunen Pferdeschwanz auf dem Weg zu einer davon von ihrer Arbeit erzählt. An etwa 60 Stellen stehen Kameras im Wald, immer zwei gegenüber, damit man den Luchs von beiden Seiten knipsen kann, ein Bewegungsmelder löst die Kamera aus. Aber die Fallen machen Arbeit: Stundenlang ist man im Winter mit Tourenski oder Schneeschuhen unterwegs, um die Kamera einen halben Meter höher zu montieren. "Sonst hat man eine schöne Kamera tief unter der Schneedecke", sagt Weingarth trocken.

Jetzt, im Herbst, ist das nicht das Problem, die Falle ist intakt. Schnell die Speicherkarte ins Lesegerät, und bloß nicht zu viel Hoffnung machen, "nein, da ist bestimmt kein Luchs drauf, das wäre ja auch, sag' ich doch, ein Fuchs, ein Hund, ein Parkwächter, ein Marder ..." Und dann ein Schrei: "Jaaa! Ein Luchs!" Die Kamera hat funktioniert, Weingarths Tag ist gerettet. Später wird sie die Fellmusterung mit ihren anderen Fallenbildern vergleichen, um herauszufinden, welcher der 16 Luchse es war, deren Reviere zumindest teilweise im Nationalpark liegen - fotografiert hat sie alle.

16 Tiere: Das ist mehr als erwartet, aber es sagt wenig darüber aus, ob der Luchs in der Gegend eine Überlebenschance hat. Denn der Nationalpark ist für Luchsstandards klein. Zusammen mit dem tschechischen Teil, der fast dreimal so groß ist wie der deutsche, bringt es der Park auf etwa 1000 Quadratkilometer Fläche, aber das langgezogene Gebiet ist oft nur wenige Kilometer breit. Die Streifzüge von Luchs Patrik, der sein Revier im Norden des Parks hat, erstrecken sich jedoch über 80 Kilometer, weit über die Parkgrenze hinaus. Weil mehr als 16 Tiere nötig sind, damit die Luchse nicht genetisch verarmen, braucht es Platz - und Frieden im Wald.

In der Dämmerung sind die Chancen am besten, einen Luchs zu sehen, denn Luchse sind nachtaktiv. (Foto: dapd)

Noch vor zehn Jahren wurde die Zahl der Luchse im Gebiet rund um den Böhmerwald auf bis zu 100 Tiere geschätzt, inzwischen sind es vermutlich deutlich weniger, obwohl die Luchse im Nationalpark alljährlich Junge großziehen. Aber die wandern nach einem Jahr ab. Fast immer verliert sich danach ihre Spur, die Überlebensquote dürfte gering sein. Ein Grund dafür ist Wilderei auf der tschechischen Seite. "Das ist verboten, aber es passiert trotzdem", sagt Ludek Bufka vom tschechischen Nationalparkteil. Aber selbst wenn es gelänge, das zu unterbinden: Er glaubt nicht, dass es reichen würde. "Wir brauchen eine Verbindung zu anderen Populationen", sagt er.

Die nächsten Luchse leben in den Karpaten, 300 Kilometer entfernt. "Das ist nicht weit", sagt Bufka. Er meint, dass die Luchse gut hin und her wandern könnten: Auf der tschechischen Seite habe man festgestellt, dass Luchse es in Gebieten mit nur 40 Prozent Wald aushalten, vorausgesetzt, die Landschaft dazwischen ist intakt und nicht durch Autobahnen zerteilt. Wenn es so einen Feld-Wald-Korridor zwischen Karpaten und Böhmerwald gäbe, könnte Bufkas Traum von Groß-Luchsien wahr werden.

Vorerst sieht es nicht danach aus, und die Luchse können froh sein, dass sie wenigstens den Nationalpark haben. Da sind sie willkommen, obwohl ein Luchs pro Jahr um die 50 Rehe verspeist - zum Ärger vieler Jäger. Immerhin bekommen sie von einer Versicherung 50 Euro erstattet, wenn sie ein Reh an den Luchs verlieren; Bauern werden aus einem Fonds des Parks entschädigt, wenn ein Luchs Schafe oder Ziegen reißt.

In der Dämmerung sind die Chancen am besten, einen Luchs zu sehen, denn Luchse sind nachtaktiv. Also geht es frühmorgens auf den Hochsitz, mitten im Gebiet von Luchs Nora. Auch Milan soll hier unterwegs sein, und sein Sohn Kika. Die Stunden ziehen sich hin, die feuchte Kälte kriecht in die Knochen, in der Ferne röhren brünftige Hirsche. Von Luchsen keine Spur. Erst später bekommt man sie zu sehen, im Freilandgehege im Park. Da streicht ein Luchspaar mit müheloser Eleganz durch die Bäume. Was muss das in freier Wildbahn für ein Schauspiel sein? "In 21 Jahren hier habe ich im Wald nur einmal Luchse gesehen", sagt der Chef der Anlage tröstend.

© SZ vom 01.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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