Flüchtlingsfamilie in Schwaben:Letzte Zuflucht Kirche

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Wenn es nach den deutschen Behörden ginge, wäre Tatjana T. längst in Polen. Doch die Tschetschenin fürchtet, ihr Bruder könnte sie und ihre vier Kinder umbringen - und lebt nun in einer Kirche. Erneut versucht eine schwäbische Pfarrgemeinde, eine Flüchtlingsfamilie vor der Abschiebung zu retten.

Von Stefan Mayr

Tatjana T. sitzt an einer Biergartengarnitur, die ihr als Küchentisch dient. Sie wirkt sehr verängstigt, ihre eingezogenen Schultern und ihr ganzer Körper signalisieren: Diese junge Frau würde sich am liebsten unsichtbar machen. Die alleinerziehende Mutter von vier Kindern wohnt seit zwei Wochen im Keller der katholischen Kirche Maria Hilf in Stadtbergen vor den Toren Augsburgs. Kirchenasyl.

Für die 31-jährige Witwe aus Tschetschenien ist es die vorläufig letzte Station in einem Leben, das von Leid und Schmerz geprägt ist. "Ich hoffe, dass ich nicht nach Polen abgeschoben werde", flüstert sie auf Russisch. "Vor Polen habe ich sehr viel Angst." Tatjana T. (Name geändert) stockt und weint. Warum, erklärt ihre Dolmetscherin und Unterstützerin Nathalie Wohlgemuth: "Sie geht davon aus, dass ihr Bruder sie überall suchen wird, um den Ehrenmord an ihr zu verüben."

Wenn es nach den deutschen Behörden ginge, wäre Tatjana T. längst in Polen. Im Februar erhielt sie ihren Abschiebebescheid. Nach den Regeln der sogenannten Dublin-II-Verordnung muss ihr Asylverfahren in Polen stattfinden, weil sie dort die EU betreten hat. Mit dieser Rechtslage will sich die Stadtbergerin Tina Hochheuser nicht abfinden. "Was ist wichtiger?", fragt die Mitinitiatorin des Kirchenasyls, "Dublin II oder das Kindswohl?" Schließlich gebe es auch eine UN-Kinderrechtskonvention, auf sie nehme Dublin II keine Rücksicht. Deshalb sei das Kirchenasyl die einzige Möglichkeit, die fünfköpfige Familie zu schützen.

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"Alle vier Kinder sind schwer traumatisiert", sagt Hochheuser, "so einer Familie muss eine Gesellschaft doch helfen." Ganz ähnlich sieht das die Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern: Sie fordert ein "zeitgemäßes Zuwanderungsrecht". Die zunehmenden Kirchenasyl-Fälle werfen aus ihrer Sicht die Frage auf, wie das geltende Recht verbessert werden muss. Asylsuchende hätten den berechtigten Wunsch nach einem Leben in Sicherheit. Diakone und Kirche seien mit der Politik im Gespräch, "Kirchenasyle unterstreichen die Dringlichkeit."

"Die Mörder hatten zwei Magazine leergeschossen"

Tatjana Ts. Leidensweg beginnt 1994. Im Tschetschenienkrieg wird ihr Dorf bombardiert. Die Schule wird zerstört, die Schullaufbahn der Elfjährigen ist damit zu Ende. Mit 18 heiratet sie einen 17-Jährigen. 2008, im zweiten Tschetschenienkrieg, wird ihr Mann getötet. Nachbarn bringen den Leichnam auf den Hof - vor den Augen des fünfjährigen Sohnes. "Die Mörder hatten zwei Magazine leergeschossen", sagt die Dolmetscherin.

Fortan wird Tatjana T. von ihrer Schwiegermutter und Schwägerin geschlagen und bedroht. Die Frauen fordern von ihr, das Haus zu verlassen und ihre Söhne dazulassen. So verlangt es die örtliche Tradition. Tatjana T. widersetzt sich. Darauf wird sie eingesperrt und bekommt kaum noch Essen. Die Kinder müssen auf dem Teppich schlafen.

Eines Tages bekommt ihr ältester Sohn mit Elektrokabeln Schläge auf den Po, sodass er nicht mehr sitzen kann. Nachts kommen immer wieder wildfremde Männer ins Haus. Sie behaupten, der Ehemann habe ihnen Geld geschuldet. Beim Anblick der maskierten Männer rennt der älteste Sohn in Panik auf die Straße. Er wird von einem Auto angefahren und liegt ein halbes Jahr im Krankenhaus, davon vier Wochen im Koma.

2013 hält Tatjana dieses Leben nicht mehr aus. Sie flüchtet mit ihren vier, sechs, acht und zehn Jahre alten Kindern über Polen nach Deutschland. Die Familie landet in einer Sammelunterkunft in Stadtbergen. Ihr Zustand ist miserabel. "Frau T. hat eine schwere posttraumatische Belastungsstörung, sie leidet unter Magenblutungen und Schüben einer Depression", sagt die Ärztin Nathalie Wohlgemuth.

Den Kindern geht es kaum besser: Der älteste Sohn ist zwar erst zehn, spricht aber schon von Selbstmord. Die Bilder aus Tschetschenien holen ihn regelmäßig ein. Tina Hochheuser zeigt Gutachten vor. "Eine Abschiebung würde (. . .) den Gesundheitszustand erheblich gefährden und damit auch das Wohlergehen der vier Kinder", schreibt das Gesundheitsamt. Eine kinderpsychologische Klinik bezeugt, dass die Abschiebung eine "massive Destabilisierung mit erheblicher Gefährdung" wäre.

"In Polen müssten die Kinder wieder eine neue Sprache lernen und wieder neue Freunde finden", sagt Tina Hochheuser. Zusätzlich zu der neuerlichen Entwurzelung drohe der Familie in Polen akute Lebensgefahr: In den Augen ihres Bruders ist Tatjana T. eine Kindsentführerin, weil sie die Söhne nicht bei der Familie des Ehemannes gelassen hat. Aus Angst vor dem Bruder lässt T. keine Fotos machen. Aus Angst vor Abschiebung und Ehrenmord verlässt sie das Kirchengelände nicht. Ihre Welt endet bis auf Weiteres an einer zwei Meter hohen Backsteinmauer.

Polizei beendet in Augsburg Kirchenasyl

Erst im Februar hatten Ausländerbehörde und Polizei in Augsburg ein Kirchenasyl beendet, indem sie vor Sonnenaufgang eine Mutter und ihre Kinder abholten und nach Polen abschoben. Es war das erste Mal seit 18 Jahren, dass die Polizei ein Kirchenasyl in Bayern räumte. Der Fall löste tiefe Bestürzung aus. Sogar der ansonsten sehr zurückhaltende Augsburger Bischof Konrad Zdarsa äußerte sich kritisch: "Ich bin betroffen und traurig."

Er sprach mit Innenminister Joachim Herrmann (CSU), wenig später kündigte das Ministerium an, Kirchenasyle künftig zu respektieren und gegen den Willen des Pfarrers "weder kirchliche Räume zu betreten noch gewaltsam Personen abzuführen". Der Pfarrer von Maria Hilf, Konrad Huber, gibt keine Interviews. Wie viele seiner Kollegen, die im Stillen Kirchenasyle gewähren.

Die Helfer der Familie T. setzen nun auf Zeit: Mitte des Jahres läuft eine sechsmonatige Frist ab. Danach muss das Asylverfahren nicht mehr in Polen, sondern in Deutschland durchgeführt werden. Solange schlafen Tatjana T. und ihre vier Kinder in einem Raum, die Eisenstockbetten hat die Freiwillige Feuerwehr aufgestellt. Zum Duschen müssen sie in die Wohnung des Pfarrers. Aber Tatjana T. klagt nicht. Im Gegenteil. "Super" sei es hier, "ich bin sehr froh, dass die Menschen mir helfen."

Ihre Unterstützer - fünf Leute sind der harte Kern, insgesamt kümmern sich 20 Personen - bringen die Kinder in Schule und Kindergarten, fahren sie zum Sport und zum Singen. "Ich hoffe, dass sie die Schule fertig machen können", sagt die Mutter. "Vielleicht können sie sogar studieren." Auf die Frage, ob sie selbst ihre verlorene Schulbildung nachholen wolle, sagt sie: "Ja." Dann senkt sie den Kopf. Sie drückt ihre Finger gegen die Augen und beginnt zu schluchzen. Dann bricht sie das Interview ab.

© SZ vom 07.04.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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