Ermittlungen gegen KZ-Wachmann:Weidens größter Fall

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Als Wachmann in Auschwitz soll ein heute 87-Jähriger bei der Tötung von 344.000 Menschen geholfen haben. Experten messen dem Fall eine ähnliche Bedeutung bei wie der Verhandlung gegen John Demjanjuk. Doch ausgerechnet die kleine Staatsanwaltschaft Weiden muss die Vorwürfe prüfen.

Wolfgang Wittl

Die Reaktionen, die Gerd Schäfer erhalten hat und noch erhält, haben ihn dann doch erstaunt. Als bekannt geworden ist, dass die Staatsanwaltschaft Weiden möglicherweise gegen einen ehemaligen Wachmann aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ermitteln wird, bekam die Behörde plötzlich eindeutige Pamphlete "aus einer ganz bestimmten Ecke" zugeschickt, wie der Leitende Oberstaatsanwalt Schäfer sagt: anonyme Zuschriften von Rechtsextremisten, die den Holocaust leugnen.

Vielleicht auch wegen Vorfällen wie diesen spricht Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) grundsätzlich von einer zentralen Bedeutung, "dass nationalsozialistisches Unrecht und individuelle Schuld nachdrücklich aufgeklärt und die Täter einer schuldangemessenen Strafe zugeführt werden".

Vor vier Wochen hat die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen die Erkenntnisse ihrer Vorermittlungen nach Weiden geschickt: Die Behörde aus Ludwigsburg wirft einem heute 87-Jährigen "einen wesentlichen Tatbeitrag" bei der Tötung von mindestens 344.000 Menschen vor. Allein zwischen dem 19. Mai und 22. Juli 1944 seien im KZ Auschwitz-Birkenau 137 Züge mit mehr als 433.000 ungarischen Juden eingetroffen, die größtenteils sofort umgebracht worden seien.

Der Mann, der sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatte, habe "durch seine Tätigkeit beim Absperren der Rampe, beim Wachdienst um das Lager und den Dienst auf den Wachtürmen einen kausalen Beitrag zu den als Mord zu qualifizierenden Tötungsverbrechen geleistet", heißt es.

Dass ausgerechnet die Staatsanwaltschaft Weiden - nach Deggendorf die kleinste in Bayern - mit dem Fall betraut wurde, liegt daran, dass sich der Beschuldigte auf deutschem Boden zuletzt erwiesenermaßen im Raum Weiden aufgehalten hatte. Das war vor 60 Jahren. Heute lebe der Mann im Ausland und besitze die dortige Staatsbürgerschaft. Nach SZ-Informationen handelt es sich bei dem Aufenthaltsort um eine größere Stadt in den USA. Geboren wurde der Mann als sogenannter Volksdeutscher in der Slowakei.

Experten messen dem Fall eine ähnlich hohe Bedeutung bei wie der Verhandlung gegen John Demjanjuk. Zum einen wäre es seit fast 40 Jahren wieder der erste Kriegsverbrecherprozess gegen einen früheren Wachmann aus dem größten NS-Massenvernichtungslager. Zum anderen gibt es juristische Parallelen zu Demjanjuk, der im Vernichtungslager Sobibor an der Ermordung von mehr als 28.000 Juden beteiligt gewesen sein soll - und wofür ihn das Landgericht München im Mai 2011 zu fünf Jahren Haft verurteilte.

Das Urteil wurde allerdings nicht rechtskräftig, weil Revision eingelegt wurde - und Demjanjuk im März dieses Jahres vor der Entscheidung darüber eines natürlichen Todes starb.

Ob der Bundesgerichtshof die Auffassung der Münchner Richter teilt, blieb daher unbeantwortet. Das Landgericht München vertrat im Fall Demjanjuk die Ansicht, dass jeder Wachmann in einem Konzentrationslager als "Teil der Mordmaschinerie" am nationalsozialistischen Massenmord beteiligt gewesen sei. Der Nachweis von Einzeltaten sei demnach nicht notwendig. Eine Auffassung, welche die Zentrale Stelle in Ludwigsburg teilt - und mit der sich auch die Staatsanwaltschaft Weiden auseinandersetzen muss.

Man werde prüfen, ob die Beweise ausreichen, sagt Oberstaatsanwalt Schäfer. Derzeit seien zwei Kollegen mit der Sichtung der Unterlagen beschäftigt, möglicherweise müssten auch Historiker hinzugezogen werden. Er hoffe, dass die Untersuchungen bis zum Jahresende abgeschlossen werden können.

Im Justizministerium herrscht Zuversicht, dass die Weidener Juristen für diesen spektakulären Fall gewappnet sind. Die Staatsanwaltschaft habe wegen ihrer Zuständigkeit für das ehemalige Konzentrationslager Flossenbürg bereits einschlägige Verfahren bearbeitet. Sollte es zur Anklageerhebung kommen, rechnen Beobachter damit, dass die USA einer Auslieferung des 87-Jährigen rasch zustimmen würden.

© SZ vom 19.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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