Unterwegs in der kanadischen Arktis:Weiß in allen Farben

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Der Dempster Highway im Norden Kanadas führt während der Wintermonate durch eine faszinierende, fast menschenleere Eislandschaft. Das macht jede Begegnung zum Abenteuer.

Von Ingrid Brunner

Blackout - zumindest so ähnlich. Schon von Weitem kündigt er sich an mit der gigantischen Schneewolke, die auf der Piste aufgewirbelt wird. Wem auf dem Dempster Highway ein Truck entgegenkommt, der verschwindet in einem riesigen Wirbel aus Eiskristallen. Die Sicht im Auto liegt für kurze Zeit bei null - "White-out" sagen die Einheimischen dazu. Da hilft nur ruhig bleiben, runter vom Gas und rechts fahren - aber bloß nicht zu weit an den Rand, sonst steckt der Wagen fest in dicht gepresstem Schnee. Doch zum Glück kommt nur selten mal ein Truck entgegen, und die Fahrer würden immer anhalten und helfen, sollte ein Auto auf der Strecke liegen oder stecken bleiben.

Der "Dempster" ist die Lebensader, welche die Bewohner der kanadischen Arktis auf dem Landweg versorgt. Und er ist die nördlichste ganzjährig befahrbare Straße der Welt. Damit das auch im Winter trotz Blizzards, Schneeverwehungen und Temperaturen bis zu minus 35 Grad Celsius gewährleistet ist, arbeitet der Räumdienst Tag für Tag - mit gigantischen Schneepflügen, Fräsen und Steamer genannten Dampfmaschinen, die Eisplatten wegschmelzen. Ein enormer Aufwand, der in Europa undenkbar wäre.

Testbild in Sicht: Wenn der Truck vorüber fährt, versinkt die Welt in einem weißen Schleier. Sobald sich die Schneekristalle gesetzt haben, genießt der Fahrer weite Ausblicke in die arktische Taiga. (Foto: Holger Bergold)

Der Highway, der in Wahrheit eine Schotterpiste ist, beginnt etwa 40 Kilometer hinter Dawson City im Yukon Territory und endet nach rund 740 Kilometern in der Kleinstadt Inuvik in den Northwest Territories. Er überquert dabei den Polarkreis. Ein Großteil der Strecke verläuft über Permafrostboden, der nicht geteert werden kann. "Ich liebe den Dempster", sagt Trucker Chris am Abend vor der Abfahrt in der Bar des Downtown Hotels in Dawson City. Er erzählt von Kojoten, Wölfen, Elchen, die er von seiner klimatisierten Fahrerkabine aus sieht. Seit 14 Jahren fährt er ihn schon, bei jeder Wetterlage, erzählt er. Ab und zu sei eine Strecke wegen einer Lawine gesperrt - oder wegen eines heftigen Wintersturms, der einem bergigen Abschnitt der Straße den Namen Blizzard Alley verpasst hat. Aber er habe bis jetzt immer Glück gehabt unterwegs.

Wintertouristen sind rar auf dem Dempster, doch gerade das macht einen Teil seines Reizes aus: wenig Verkehr, eine wilde, ungezähmte Landschaft, verschneite Gebirgszüge und froststarre Natur mit tiefgefrorenen Flüssen, Bächen, Seen - und Schnee so weit das Auge reicht. Es ist eine Welt in vielen Weißtönen, unterbrochen von Schwarz- und Weißfichten sowie Espen. Bäume werden in Richtung Norden immer spärlicher. Irgendwann ist man jenseits der Baumgrenze in der Tundra.

SZ-Karte (Foto: sz)

In Eagle Plains trifft man den Trucker Chris wieder. Der Ort, wenn man ihn denn so nennen will, liegt auf Kilometer 369, auf halber Strecke, nach Inuvik: Acht Einwohner, eine Tankstelle, ein Hotel mit Bar und Restaurant. Das Eagle Plains Hotel eröffnete kurz vor der Inbetriebnahme des Dempster 1979 und ist schon etwas in die Jahre gekommen. Doch es hat alles, was Trucker und gewöhnliche Autofahrer benötigen: Tankstelle, Werkstatt, Abschleppdienst, sogar eine eigene Funkfrequenz. Hotelchef Stanley McNevin lebt hier in der Einöde. Seine Freundin, eine Tierärztin, wohnt in Dawson City. Für ihn nur ein Katzensprung, er kennt die Strecke in- und auswendig. Er mag die Ruhe hier, aber an diesem Abend nervt ihn der viele Verkehr: "Alle wollen zum Thaw di Gras nach Dawson", erklärt er, deswegen sei so viel los auf der Straße. Thaw di Gras ist das Frühlingsfest in Dawson, eine Wortschöpfung aus Mardi Gras und "thaw" für tauen. So weit, so gut, aber wo bitte tobt hier der Verkehr?

Bloß durchfahren? Unmöglich! Bergpässe eröffnen immer wieder spektakuläre Ausblicke

Auch ängstliche Naturen können es wagen, auf dem Dempster zu fahren. Der Untergrund ist griffig, er ist so sicher wie Asphalt - es ist eher eine Kopfsache, auf einem Belag aus Schotter und Schnee unterwegs zu sein. Anna Hart, eine mitreisende Britin, hat als echte Londoner Stadtpflanze zwar einen Führerschein, aber sie fährt kaum. Nun sitzt sie am Steuer, macht ein paar Bremsproben, steuert den Wagen erst sehr vorsichtig, doch schon bald fährt sie 90 - Höchstgeschwindigkeit. Für den Anfang ist es nach einer halben Stunde genug. Stolz, aber mit feuchten Händen, klatscht sie ihre Beifahrer ab.

Der Verlauf des Highways folgt Flussläufen, schmiegt sich an Bergflanken, führt über Bergpässe und eröffnet immer wieder spektakuläre Ausblicke. Einfach durchfahren? Unmöglich, der Schnee gleißt auf den Bergzügen der Ogilvie, der Richardson und der Tombstone Mountains. Dank der extrem trockenen Luft ist er wie Pulver, er knirscht unter den Füßen, die bei jedem Schritt im Tiefschnee versinken. Warm anziehen ist ein Muss, auch für noch so kurze Aufenthalte im Freien: Nach einer Teepause ist der Teebeutel schon in wenigen Minuten hart gefroren und liegt wie ein Stein im leeren Becher.

Am Ende des Dempster beginnt die Eisstraße nach Tuktoyaktuk. Man fährt erst auf Fluss- dann auf Meereis. (Foto: Holger Bergold)

Da ist man zum ersten Mal dankbar für das beheizte Lenkrad. Auch die beheizbaren Sitze und Lehnen des Leihwagens lernt man zu schätzen. Und natürlich sucht, hofft und wartet jeder auf einen Elch der aus dem Unterholz bricht, oder die Karibuherde, die im Frühjahr auf dem Weg in ihre Sommerquartiere ist. Als in der Ferne ein roter Punkt auftaucht, ist das kein Tier, sondern der Extremsportler Marc Hines, der auf einem Fatbike den Dempster abradelt und dabei sogar im Zelt schläft. Der Bart ist eingefroren, aber sonst ist er guter Dinge. Wildlife lässt aber auf sich warten. Doch dann ist da ein brauner Punkt am Straßenrand: Ein Luchs sitzt da völlig entspannt und beobachtet die herannahenden Menschen. Sehr selbstbewusst zieht er sich ins Unterholz zurück, schaut sich noch mal um, als wolle er sagen: "Das hier ist mein Revier."

Endstation Inuvik, hier endet der Dempster Highway. Hier gibt es richtig viele Menschen, Hotels, Läden, eine Kirche im Iglu-Format. Die Einwohner sind ein ganz besonderer Schlag, die noch den alten Pioniergeist leben. Aber Endstation? Es gibt ja noch die Ice Road nach Tuktoyaktuk - kurz "Tuk". Im Sommer ist der etwa 800 Einwohner zählende Ort nur aus der Luft erreichbar. Während des Winters aber fährt man die 194 Kilometer nach Tuk auf dem Mackenzie River bis an die Küste der Beaufort Sea. Ein Schild im Eis zeigt, ab wann man 1100 Meter Tiefe unter den Reifen hat.

Hier trifft man auch den Extrembiker Marc Hines. (Foto: Holger Bergold)

So ist es noch diesen Winter. Doch wenn Ende April das Eis schmilzt, ist die Ice Road nach Tuk Geschichte. Vom nächsten November an verbindet eine Straße Tuk ganzjährig mit dem Rest der Welt. Sie schlängelt sich durch das verzweigte Mackenzie-River-Delta und führt über acht Brücken. Dann, so hoffen die Einwohner, werden mehr als die bislang etwa 1000 Besucher im Jahr den Ort besichtigen. Zumindest wünscht sich das der Gemeinderat in Tuk. Ein Fortschritt für die noch traditionell lebenden Inuit? Vielleicht. Aber ein Road-Abenteuer weniger. Auch Trucker Chris findet das schade. Aber, sagt er, es gebe ja noch die Ice Road nach Aklavik, "die hat sogar richtig enge Kurven".

© SZ vom 08.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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