Unfall trotz Fahrassistenz:Assistenzsystem verrät den Fahrer

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Eine solche Dash-Cam hat den Schweizer Politiker Philipp Müller überführt: In erster Instanz diente sie dem Gericht als Beweismittel. (Foto: Wolfgang Kumm/dpa)
  • In der Schweiz steht ein Politiker vor Gericht, dessen Wagen eine Rollerfahrerin erfasst und schwer verletzt hat.
  • Auslöser für den Unfall war offenbar ein Sekundenschlaf des Fahrers.
  • Der Mann hat wiederholt die Signale des Müdigkeitsassistenten ignoriert - was nun strafverschärfend wirken könnte.

Von Charlotte Theile, Zürich

Es ist ein technisches Feature, das die meisten Menschen eher nervt: Auf dem Display hinter dem Lenkrad erscheint eine Kaffeetasse. Die Bordelektronik erklärt, sie hätte Müdigkeit erkannt: "Wie wäre es mit einer Pause?" Theoretisch schön, praktisch ist man ohnehin schon zu spät dran. Etwas in der Art dürfte sich wohl auch Philipp Müller, der damalige Vorsitzende der schweizerischen FDP, gedacht haben, als der Hinweis am 10. September 2015 auftauchte. Müller ignorierte die Bedenken seines Mercedes - ein verhängnisvoller Fehler. Nur wenige Minuten später fiel Müller in Sekundenschlaf, sein Auto geriet auf die Gegenfahrbahn und kollidierte dort mit einer 17 Jahre alten Rollerfahrerin. Das Mädchen wurde schwer verletzt.

Technische Hilfen wie Dash-Cams nützen nicht immer nur ihren Besitzern

Müller, der heute nicht mehr FDP-Vorsitzender ist, aber immer noch eine aktive Rolle in der Schweizer Politik einnimmt, erfuhr nach dem Unfall, dass er an Schlafapnoe leidet. Zu den Symptomen zählt vor allem, dass der Atem in der Nacht wiederholt aussetzt und die Patienten daher an für sie unerklärlicher Müdigkeit leiden. Da Müller nichts von diesem Leiden wusste, konnte er auch nicht wissen, dass er nicht mehr fahrtüchtig war, so erklärte sich der 63 Jahre alte Politiker. An den Unfall selbst kann er sich nicht mehr erinnern - "mir fehlen acht Minuten", hatte er kurz nach dem Unfall zu Protokoll gegeben.

Kontrollen hatten ergeben, dass er weder zu schnell gefahren war noch telefoniert oder gesimst hatte. Auch der Alkoholtest war eindeutig: 0,0 Promille. Trotzdem ist die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau überzeugt, der FDP-Vorsitzende hätte sich gar nicht erst ans Steuer setzen dürfen. Sie sprach Philipp Müller des Fahrens in fahrunfähigem Zustand sowie wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung infolge mangelnder Aufmerksamkeit für schuldig.

Ein Grund dafür: Das Feature mit der Kaffeetasse. An Bord des Mercedes war eine sogenannte Dash-Cam, eine kleine Kamera, installiert. Ihre Aufzeichnungen belegen, dass Müller mehrfach von Spurhalte- und Bremsassistent auf seine Müdigkeit hingewiesen wurde. Obgleich dem Politiker nicht bewusst war, dass er an Schlafapnoe leidet, hätte ihm klar werden müssen, dass er kaum fahrtüchtig war. Für die Staatsanwaltschaft wirkte das strafverschärfend. Der Politiker hat Einspruch gegen das Urteil erhoben, zum laufenden Verfahren möchte er sich nicht äußern.

Juristen sehen in dem Fall eine neue Entwicklung in der Rechtsprechung, die in den kommenden Jahren noch für viele Autofahrer relevant werden dürfte. Der Zürcher Rechtsanwalt Martin Steiger ist Spezialist für Recht im digitalen Raum. Er glaubt, Autofahrer müssten schon heute davon ausgehen, dass die Elektronik, die sie als Unterstützung angeschafft haben, vor Gericht auch gegen sie verwendet werden kann. "Moderne Autos sind Computer auf Rädern. Da wird viel aufgezeichnet, und es ist nur logisch, dass solche Daten im Strafverfahren verwendet werden." Ob und wie das geschehe, liege im Ermessen der Richter - aber die Fälle, in denen diese Aufnahmen hinzugezogen werden, würden immer mehr. Wie auch im prominenten Fall Müller handle es sich oft um leichtere Delikte, die in der Schweiz nicht vor Gericht kommen, sondern nur von der Staatsanwaltschaft beurteilt werden.

ADAC: Fahrer sind für Fahrtüchtigkeit selbst verantwortlich

Auch in Deutschland sind in den vergangenen Jahren Bilder aus der Dash-Cam, die meist am Armaturenbrett oder an der Windschutzscheibe angebracht ist, vor Gericht verwendet worden. Hier stehen die Juristen zumeist vor der Abwägung, ob Dritte, die ohne ihr Wissen von einem anderen Verkehrsteilnehmer gefilmt werden, geschützt werden müssen. Ein Urteil aus dem Jahr 2015 besagt: Wenn die Kamera "anlassbezogen" eingeschaltet wird, um etwa das Drängeln eines Fahrers auf der Autobahn zu dokumentieren, sind die Bilder verwertbar. Vom Autoklub ADAC heißt es, Fahrer seien für ihre Fahrtüchtigkeit selbst verantwortlich, auf Assistenten solle man sich nicht zu sehr verlassen. Dass es strafverschärfend wirke, eine Warnung zu ignorieren, sei jedoch nachvollziehbar.

Digital-Anwalt Steiger glaubt, dass viele Autofahrer davon ausgehen, dass ihnen die Dash-Cam vor Gericht hilft. Dass es andersrum ausgehen könnte, sei den wenigsten klar. Sein Rat: Schon beim Kauf eines Autos überlegen, ob einem die Überwachungsfeatures nützen. Er habe sich vor einem Jahr ein Auto angeschafft, bewusst ohne Müdigkeitsassistenten: "Auch weil ich wusste, dass mir dieses Feature schaden kann." Eine langfristige Strategie sei das aber nicht. "Über kurz oder lang werden Autos immer mehr Daten sammeln", sagt Steiger. So sei in der Schweiz etwa eine verpflichtende Blackbox für schwere Raser im Gespräch. Europaweit könnten elektronische Notrufsysteme obligatorisch werden - die auch angeben, ob die Passagiere beim Aufprall angeschnallt waren. "Der Elektroauto-Hersteller Tesla hat immer wieder die Aussagen von Autofahrern zu Unfällen korrigiert. Durch die Überwachungssysteme wissen sie es besser."

Was den Müdigkeitsdetektor angeht, kann Steiger den früheren FDP-Chef sogar verstehen. "Wenn die Kaffeetasse aufleuchtet, bin ich nicht unbedingt in der Situation, dass ich rechts ranfahren und ein Nickerchen machen kann." Zumindest aber sollte man wissen: Diese Entscheidung bleibt nicht unbedingt im Auto. Sie kann aufgezeichnet und verwendet werden.

© SZ vom 02.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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