Unfälle mit dem Fahrrad:Tödlicher Winkel

Lkw, toter Winkel, Assistent

Ein Fahrradfahrer  im toten Winkel eines Lkws.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Die Regierung will Radunfälle durch strengere Promillegrenzen senken. Das reicht bei Weitem nicht aus, sagen Experten. Denn die größte Gefahr für Radler ist der tote Winkel eines Lkws. Doch die Lastwagen-Hersteller bewegen sich kaum und die Politik handelt zögerlich.

Von Steve Przybilla

Wenn Wolfram Hell auf sein Netbook blickt, steigt Ärger in ihm auf. "Mich nervt es, dass trotz objektiver Missstände nichts geschieht", sagt der Münchner Rechtsmediziner und Unfallforscher. Seit zehn Jahren erfasst Hell systematisch alle Verkehrstoten, die zu ihm ins Institut kommen. 1400 Fälle sind in der "Datenbank des Todes", wie die Sammlung inoffiziell genannt wird, verzeichnet: überrollte Fußgänger, brennende Lkws, auf Leitplanken aufgespießte Autos. "Man sieht immer wieder die gleichen Unfallmuster", sagt Hell und klickt auf ein Schema, das den Urtypus des Fahrrad-Crashs zeigt: Lastwagen, die Zweiräder beim Abbiegen übersehen - und nahezu unbemerkt plattwalzen. "Das Schlimme ist, dass das nichts Neues ist und trotzdem niemand etwas dagegen tut", schimpft Hell.

Auf den ersten Blick überrascht diese Aussage. War doch das Risiko im Straßenverkehr ums Leben zu kommen noch nie so gering wie heute: 2012 kam es bundesweit zu 3606 tödlichen Unfällen - ein historisches Tief. Doch der Schein trügt: Während moderne Sicherheitssysteme die Insassen von Fahrzeugen immer besser schützen, leben Radfahrer nach wie vor gefährlich: Rund 400 von ihnen sterben jedes Jahr in Deutschland - die meisten, weil sie von Auto- und Lkw-Fahrern schlichtweg übersehen werden.

Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) will diese Zahl senken, indem die laxe 1,6-Promille-Grenze bei Radfahrern verschärft werden soll. Das sieht auch Wolfram Hell nicht anders. Bei 23 Prozent der von ihm erfassten getöteten Radfahrer habe Alkohol eine Rolle gespielt. Doch die alleinige Konzentration auf Promillewerte sei zu kurz gegriffen. "Dadurch lässt das Ministerium viele andere Baustellen außer Acht."

Datenbank des Todes

Wo genau man ansetzen müsste, soll die Datenbank des Todes herausfinden. Mittels Computertomografie haben die Rechtsmediziner präzise 3D-Bilder der Unfallopfer erstellt. Durch Haaruntersuchungen lassen sich Rückschlüsse auf Alkohol- und Drogenkonsum ziehen. "Nachdem wir die Verletzungen erkannt haben, können wir die Variablen verändern", erklärt Hell. "Dann sehen wir etwa, ob ein Helm etwas geändert hätte." Auch in diesem Punkt spricht die Statistik eine eindeutige Sprache: Nur vier von 100 Toten, die in der Münchner Rechtsmedizin landen, trugen einen Helm. Ob sich freiheitsliebende Radler dadurch beeindrucken lassen, ist eine andere Frage. Wolfram Hell fordert deshalb eine technische Lösung: "Wenn Lkw mit einem System ausgestattet wären, das den toten Winkel beseitigt, ließen sich sechs von zehn Unfällen verhindern." Schließlich könne selbst ein Helm bei einer Kollision mit einem 40-Tonner nicht mehr viel ausrichten.

Je mehr der Forscher in seiner Datenbank stöbert, desto interessanter werden die Zahlen. Demnach haben Sattelschlepper nur einen Marktanteil von sieben Prozent, sind aber bei zwei Drittel aller Rechtsabbiege-Unfälle beteiligt. Zufall? "Keineswegs", resümiert Hell. "Trotz aller Spiegel müssen sich Lkw-Fahrer heute auf unheimlich viele Dinge gleichzeitig konzentrieren. Eigentlich müsste in jedem Führerhaus ein zweiter Kollege sitzen." Da dies aber allein schon an den Kosten scheitere, fordert Hell einen "elektronischen Beifahrer": ein mit Sensoren ausgestattetes Abbiegesystem, das den toten Winkel sichtbar macht. Hell ist überzeugt davon, dass so etwas technisch machbar ist. "Das Gerät könnte piepsen wie ein Einparkassistent und notfalls sogar bremsen." Leider stießen derartige Vorschläge bei der Industrie auf taube Ohren - aus Knauserigkeit, wie der Unfallforscher vermutet.

Zurückhaltung bei den Lkw-Herstellern

Ob dieser Vorwurf berechtigt ist, soll eine Anfrage bei den beiden großen deutschen Lkw-Produzenten klären. Bei MAN schweigt der Pressesprecher zunächst mehrere Sekunden ins Telefon. In einer schriftlichen Stellungnahme versichert er schließlich, das Unternehmen beteilige sich "seit Jahren aktiv an Forschungsvorhaben zu diesem Thema". Herausgekommen ist dabei offenbar nichts. Daimler schickt eine E-Mail mit mehreren Anhängen, in denen von "Sicherheitstechnik auf höchstem Niveau" die Rede ist. Betreffs der Abbiegesysteme bleibt die Antwort vage: Es gebe Pläne, "künftige Generationen mit einer bestimmten Technik auszustatten" - noch sei diese Technik aber nicht im Angebot.

Hinter vorgehaltener Hand nennt ein MAN-Mitarbeiter ganz andere Gründe: Es werde schon deshalb kaum geforscht, weil derartige Systeme vom Endkunden ohnehin nicht gewünscht würden. Die auf Kosteneffizienz getrimmten Spediteure müssten "jeden Cent dreimal umdrehen".

Der Kampf gegen Abbiege-Unfälle

Wenn sich die Industrie schon nicht bewegt, muss die Politik handeln - so sieht es der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC), der Gesetzesänderungen fordert. So sollen nicht nur Abbiege- und Bremsassistenten vorgeschrieben werden, sondern auch Außen-Airbags und Warnsysteme, die Radfahrer vor sich öffnenden Autotüren warnen. Auf offene Ohren ist die Fahrrad-Lobby damit nicht gestoßen. "Das wird auch nichts vor der nächsten Legislaturperiode", räumt Anton Hofreiter, Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Bundestag, ein. Der Grünen-Politiker ist überzeugt, dass Lkw-Spiegel und Promillegrenzen allein nicht ausreichen. Abbiegeassistenten erteilt er dennoch eine Absage: "Diese Systeme galten bisher als zu wenig ausgereift. Wir sollten unseren Blick besser auf die gesamte Infrastruktur richten."

Fahrrad, Unfall, Fahrradunfall

Autofahrer und Radler kommen sich in der Innenstadt manchmal gefährlich in die Quere.

(Foto: Stephan Rumpf)

Auf EU-Ebene befasst sich ebenfalls ein Deutscher mit der Thematik. Dieter-Lebrecht Koch (CDU) ist stellvertretender Vorsitzender des Transportausschusses im EU-Parlament. "Ich sehe jeden Verkehrsteilnehmer, auch Radfahrer, in der Pflicht, zu seiner eigenen Sicherheit beizutragen", sagt Koch. Laut "European Road Safety Observatory", einer europäischen Verkehrsdatenbank, seien im vergangenen Jahr 1960 Fahrradfahrer in der EU tödlich verunglückt - ein Rückgang um 38 Prozent im Vergleich zu 2002.

Freiburg geht voran

Wenn es um verpflichtende Abbiegesysteme für Lastwagen geht, zeigt sich der Parlamentarier zurückhaltend: Die EU-Kommission habe erst vor wenigen Wochen eine Richtlinie vorgeschlagen, die eine "Veränderung des Fahrersichtbereichs" vorsehe. Eine Pflicht für Abbiegesysteme gehe daraus jedoch noch lange nicht hervor. "Politik sollte Ziele vorschreiben, aber keine technischen Lösungen."

Schluss mit der Blockadepolitik: Als erste deutsche Großstadt schaffte Freiburg vor einigen Jahren 160 sogenannte Trixi-Spiegel an. Sie hängen an Ampelkreuzungen direkt über dem Rotlicht und sollen so den toten Winkel eliminieren. Der Name geht auf den Spiegel-Erfinder Ulrich Willburger zurück, dessen Tochter Beatrix im Oktober 1994 beim Rechtsabbiegen von einem Lkw überrollt wurde. "Nur durch viel Glück hat sie überlebt", erzählt Willburger, "aber an den Folgen leidet sie bis heute." Der auf Elektromechanik spezialisierte Unternehmer aus dem bayerischen Seehausen hat sich seither dem Kampf gegen Abbiege-Unfälle verschrieben. Die Trixi-Spiegel lässt er im eigenen Betrieb produzieren, Stückpreis: 100 Euro.

Für die Lkw-Hersteller ist der volkswirtschaftliche Schaden zu gering

In Deutschland kam der Unternehmer mit seiner Initiative zunächst nur langsam voran. "Einige Bürgermeister nutzten das Thema für ihren Wahlkampf", sagt Willburger. Danach habe er nie wieder etwas von ihnen gehört. "Die Lkw-Hersteller sagten mir ins Gesicht, dass sie keine Kooperation wünschen." Der volkswirtschaftliche Schaden durch derartige Unfälle sei einfach zu gering, lautete die Begründung. Ganz anders die Resonanz in der Schweiz: Als Reaktion auf drei tödliche Fahrradunfälle in Winterthur wurden dort bereits 1998 die ersten Spiegel installiert. Es folgten Basel, Luzern, Biel, Aarau und Bern.

Fast 20 Jahre nach Trixis schwerem Unfall kommt nun auch in Deutschland wieder Bewegung in die Sache. Großstädte wie Münster, Frankfurt, Dessau und Oldenburg haben die Spiegel zumindest an einigen Kreuzungen aufgehängt. Wie groß ihre Wirkung tatsächlich ist, lässt sich allerdings nur schwer abschätzen. In Freiburg warnte die Polizei nach der Einführung der Spiegel vor überzogenen Erwartungen. 2011 kamen dort die letzten beiden Radfahrer ums Leben - vier Jahre, nachdem die ersten Spiegel installiert wurden.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: