Kaputte Autobahnen:Wenn der Betonkrebs ausbricht

Autobahn, Baustelle, Sanierung, Ramsauer

Eine Alkali-Kieselsäure-Reaktion, umgangssprachlich als Betonkrebs bekannt, beschädigt den Beton auf Autobahnen stark.

(Foto: dpa)

In den neuen Bundesländern sehen viele Autobahnen alt aus: Ein chemischer Prozess zerstört den Beton, die Kosten gehen in die Millionen. Dabei waren die Behörden gewarnt - und taten nichts.

Von Steve Przybilla

An der Anschlussstelle Naumburg ist der Kampf gegen den Betonkrebs verloren. Jahrelang haben sie gefummelt, geflickt und gewerkelt, jetzt geht es einfach nicht mehr. Die Fahrbahn ist kaputt, bis zur Schmerzgrenze verschlissen. An den Rändern bröckelt es, aufgeplatzte Risse sind mit bloßem Auge erkennbar. Nun wird die A 9 in Sachsen-Anhalt auf einer Länge von vier Kilometern saniert. Der Staub hängt so dick über der Baustelle, dass die Autofahrer das Licht einschalten. Aus ihren Fenstern sehen sie, wie Bagger das wegschaufeln, was vom "Verkehrsprojekt Deutsche Einheit" übrig ist.

Vor 17 Jahren wurde die A 9 im besagten Abschnitt dreispurig ausgebaut, vor 22 Jahren das letzte Mal grundsaniert. Für eine Betonfahrbahn ist das nicht alt, denn ihre vorgesehene Lebensdauer beträgt circa 30 Jahre - ein Zeitraum, der aus Kostengründen gerne ausgereizt wird. In den neuen Bundesländern, vor allem in Sachsen-Anhalt, hat dieser Richtwert mit der Realität aber schon lange nichts mehr zu tun. Verantwortlich dafür ist ein chemischer Prozess, der im Volksmund als Betonkrebs bezeichnet wird. Bei der sogenannten Alkali-Kieselsäure-Reaktion (AKR) bildet sich im Beton ein Gel, das aufquillt und Risse hervorruft. Da nur Beton betroffen ist, kommen die anderen Bundesländer relativ glimpflich davon: Drei Viertel der deutschen Autobahnen bestehen aus Asphalt.

Das "Verkehrsprojekt Deutsche Einheit" leidet an Betonkrebs

Betonkrebs kann je nach Witterung jahrelang im Verborgenen schlummern, bevor er dann umso heftiger ausbricht. Von den 470 Kilometern Autobahn, die Sachsen-Anhalt durchziehen, sind etwas mehr als die Hälfte betroffen. Auf der A 14 kurz vor Halle kam es dieses Jahr völlig überraschend zu einem "Totalversagen der Fahrbahn". So beschreibt Uwe Langkammer, Präsident der Landesstraßenbaubehörde, den Zustand, in dem eine Strecke für den Verkehr nicht mehr zumutbar ist. Obwohl die A 14 gerade einmal die Hälfte ihrer vorgesehenen Lebenszeit hinter sich hat, muss sie nun ebenfalls saniert werden. "Das bringt unseren ganzen Plan durcheinander", seufzt Langkammer.

Momentan liegt das Budget der Landesstraßenbaubehörde bei 60 Millionen Euro jährlich. Um den Betonkrebs in Schach zu halten, müsse das für den Autobahnbau zuständige Bundesverkehrsministerium bald auf 70 bis 80 Millionen Euro aufstocken, sagt Langkammer. Allein in Sachsen-Anhalt fielen in den nächsten zehn Jahren Zusatzkosten von mindestens einer Viertelmilliarde Euro an. "Und das ist das unterste Level. Es könnte auch deutlich teurer werden." Schließlich zögere man mit Versiegelungen und anderen Maßnahmen das Totalversagen nur hinaus. "Unter der Oberfläche geht die Reaktion weiter. Wie schlimm es ist, sehen wir erst, wenn die Fahrbahn aufbricht."

Die frühere staatlich geduldete Laxheit rächt sich

Bezahlt wird all das mit Steuergeldern. Bauunternehmen, die Betonpisten konstruieren, sind nach spätestens fünf Jahren aus der Pflicht, weil dann die Gewährleistung für Straßenbauprojekte abläuft. Erste Anzeichen von Betonkrebs offenbaren sich aber normalerweise erst später. Rein rechtlich kann man der Industrie also nichts vorwerfen. Schon immer haben sich Betriebe am liebsten bei regionalem Gestein bedient, weil das Transportwege und damit Kosten spart. Ob sich das jeweilige Material langfristig eignet, mussten sie jahrelang nicht überprüfen. Erst seit 2005 sehen die Ausschreibungen einen "Performance-Test" vor, der Kiesmischungen vorab auf ihre Reaktionsfähigkeit untersucht. Die frühere staatlich geduldete Laxheit rächt sich nun. Geht man davon aus, dass der Betonkrebs erst nach einem Jahrzehnt ausbricht, könnten noch viele unangenehme Überraschungen im Untergrund lauern.

Laut Verkehrsministerium lässt sich der bevorstehende Schaden momentan nicht genau beziffern, da weder gesicherte Zahlen noch Statistiken existierten. "Wir sind aber auf jeden Fall noch nicht aus dem Schneider", fürchtet Horst-Michael Ludwig, Direktor des Instituts für Baustoffkunde an der Universität Weimar. Der Experte schätzt, dass etwa zehn Prozent der Betondecken beschädigt sind - das wären rund 400 Autobahnkilometer in Deutschland. "Auch alle Großflughäfen haben riesige Probleme", sagt Ludwig. Nachdem vor einigen Jahren das Enteisungsmittel gewechselt worden sei, setze die Alkali-Kieselsäure-Reaktion dort nun viel schneller ein.

Bei privat betriebenen Autobahnen wird viel mehr getestet

Den Begriff Betonkrebs kann Ludwig nicht leiden, denn "anders als bei der echten Krankheit kann man dieses Problem durch geeignete Vorsorge verhindern". Er meint den Performance-Test, den er als einer von bundesweit fünf Gutachtern abnimmt. Um ihn zu meistern, müssen Betonproben eine Klimakammer überstehen. Zunächst werden sie in kuchenformgroße Behälter gegossen, danach werden Trockenheit, Nebel und Frost-Tau-Wechsel simuliert. Zehn bis 15 Prozent der Proben fallen in dem neunmonatigen Test durch. Das Material dehnt sich zu stark aus, reißt oder platzt auf - und wäre noch vor wenigen Jahren verbaut worden. Auffällig: "Bei privat betriebenen Autobahnen testen Firmen viel mehr als gesetzlich vorgeschrieben", sagt Ludwig. Nicht verwunderlich, schließlich laufen derartige Konzessionen über mehrere Jahrzehnte.

Betonkrebs ist beileibe kein neues Phänomen, in Deutschland waren in den 1980er-Jahren Tausende Bahnkilometer betroffen. Entsprechend intensiv wird an Methoden geforscht, mit denen man der gefürchteten Reaktion begegnen kann. "AKR ist nichts Neues, schon zu DDR-Zeiten waren bestimmte Kieswerke gesperrt", erinnert sich Uwe Langkammer aus Sachsen-Anhalt. Hätten die Behörden also besser aufpassen müssen, als nach der Wende die Aufträge für neue Autobahnen vergeben wurden? Das Verkehrsministerium wiegelt ab. AKR-Schäden seien "mit den lokal vorhandenen Gesteinskörnungen, Quarzporphyr und mitteldeutsche Kiese, nicht bekannt und nachgewiesen" gewesen.

Zwei Kiesgruben fielen durch

Zahlreiche Dokumente, die der Süddeutschen Zeitung vorliegen, zeichnen jedoch ein anderes Bild. Demnach veröffentlichte das ehemalige Institut für Baustoffe Weimar (heute: Material- und Prüfungsanstalt der Universität Weimar) schon 1988 eine Tabelle, in der die Erzeugnisse von 33 "volkseigenen Betrieben" auf AKR getestet wurden. Zwei Kiesgruben in der Nähe von Halle fielen dabei durch: "Potenziell betonschädigend reaktiv", heißt es in der Auswertung. Hätte man die Liste ernst genommen, wären der öffentlichen Hand womöglich Kosten in Millionen-, wenn nicht gar Milliardenhöhe erspart geblieben.

Gerhard Hempel wird noch deutlicher. "Dass es bis vor kurzem kein Testverfahren gab, ist eine Lüge", sagt der Geologe, der bereits zu DDR-Zeiten in Weimar forschte. "Ich habe meine Ergebnisse auf den Tisch gelegt, um die Behörden zu warnen." Als Hempel 1992 vom geplanten Weiterbau der A 14 hörte, bot er dem Verkehrsministerium seine Mithilfe an - ein Briefwechsel belegt das. Hempel, heute 82 Jahre alt, verwies auf ein Prüfverfahren, das in der DDR erfolgreich zum Einsatz gekommen sei. Im Bundesverkehrsministerium, auch das zeigen die Schreiben, stieß er beim zuständigen Ministerialrat auf offene Ohren. Dieser leitete Hempels Brief an die Deges (Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH) weiter, wo er schließlich versandete.

Warum die Warnungen in den Wind geschlagen wurden, lässt sich heute nicht mehr genau rekonstruieren. Im Bundestag stellten die Grünen dazu vor fünf Jahren eine Kleine Anfrage. Sie wollten wissen, wie viel Schaden hätte vermieden werden können, wäre Hempel gehört worden. Die damalige Antwort der Bundesregierung: "Einen vermeidbaren Schadensumfang einzuschätzen, hätte (. . .) nur spekulativen Charakter." Auch die Frage nach den politischen Verantwortlichen gestaltet sich schwierig. Viele sind längst im Ruhestand, der damalige Bundesverkehrsminister Günther Krause (CDU) trat 1993 nach diversen Affären zurück.

Untersuchungen aus DDR-Zeiten wurden ignoriert

Für Hempel war die Sache damit noch nicht abgeschlossen. Vier Jahre nach seinem ersten Brief lud ihn die Deges überraschend ein. "Überall im Büro lagen Beton-Ausplatzungen", sagt Hempel. Eine Brücke auf der A 14 habe frühe Anzeichen von Betonkrebs gezeigt. "Da wurde ich zum ersten Mal richtig ärgerlich. Nach meinem Verfahren wäre das Material doch von Anfang an aussortiert worden." Hempel arbeitete trotzdem mit, schlug eine neue Betonmischung vor, die schließlich zum Einsatz kam. Und dann? "Wollten sie nicht mehr mit uns zusammenarbeiten."

Am Ende läuft alles auf eine Frage hinaus: Haben die Baufirmen beim "Verkehrsprojekt Deutsche Einheit" jene Kiesgruben genutzt, die schon auf Hempels Liste als gefährlich eingestuft waren? "Das weiß ich bis heute nicht", sagt der Geologe, der vermutet, dass seine Warnungen wegen wirtschaftlicher Interessen unter den Tisch gekehrt wurden. Die Straßenbaubehörde in Sachsen-Anhalt teilt der SZ eine ähnliche Antwort mit: "Aufgrund des Alters der Fahrbahnen haben wir kaum noch solche detaillierten Unterlagen."

Wo der Betonkrebs am stärksten wütet:

Wo der Betonkrebs am stärksten wütet:

Neben Sachsen-Anhalt ist Brandenburg besonders stark betroffen. Dort gibt es insgesamt 800 Kilometer Autobahn, wovon etwas weniger als die Hälfte in Betonbauweise konstruiert wurde. Davon wiederum weisen 115 Kilometer sichtbare AKR-Schäden auf, vor allem auf der A 2, A 9 und A 10. Geschätzte Sanierungskosten in den nächsten zehn Jahren: 70 bis 90 Millionen Euro.

Thüringen kommt glimpflicher davon. Von den 511-Autobahnkilometern sind rund sieben Prozent AKR-geschädigt. Besonders betroffen ist die A 9. Die Kosten für eine Sanierung lassen sich laut Landesverkehrsministerium derzeit noch nicht abschätzen.

In Sachsen (567 Kilometer Autobahn) ist Betonkrebs laut Landesverkehrsministerium "derzeit kein Thema". Nachdem auf der A 14 in den vergangenen Jahren der Abschnitt zwischen Mutzschen und Leisnig saniert worden sei, blieben die Fahrbahnen aber unter ständiger Beobachtung.

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