Zellbiologie:Newtons Erbe

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Nikolaus Rajewsky auf der Baustelle seines neuen Instituts in Berlin-Mitte. (Foto: Hannes Jung)

Nikolaus Rajewsky ist ein Träumer. Mit seinen Ideen möchte er die Lebenswissenschaften revolutionieren. Künstliche Intelligenz und Maschinenlernen sollen ihm dabei helfen.

Von Kathrin Zinkant

Wenn es Berlin an einem nicht mangelt, dann sind das Baustellen. Die Besucher der Stadt mühen sich meist vergeblich, ein Foto ohne Kran aufzunehmen. Und selbst die, die hier wohnen, müssen sich fast täglich neue Wege suchen, um zur Arbeit zu kommen. Keine Baustelle allerdings dürfte die Mitarbeiter der Abteilung Industriepolitik des Wirtschaftsministeriums in den vergangenen Jahren so genervt haben, wie jene direkt vor ihrem Fenster, in der Hannoverschen Straße 28 im Bezirk Mitte. Im Hinterhof der einstigen "Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR" entsteht seit 2015 ein neues, siebenstöckiges Gebäude. Fast drei Jahre schon behindern die zugehörigen Bauzäune und Absperrungen den Weg ins Parkhaus der Bundesbehörde. Auch Sigmar Gabriel musste das hinnehmen, als er hier noch Wirtschaftsminister war.

Der Mann, der praktisch schuld an all dem ist, steht an diesem kalten Berliner Wintertag an der Einfahrt und tippt auf seinem Handy herum. Gekommen ist Nikolaus Rajewsky mit dem Roller, er trägt Hut und Cowboystiefel, wobei die Kopfbedeckung den Physiker verrät. Der Rest ist wohl dem geschuldet, was er hier betreibt, seinem Abenteuer Zukunft. Das Gebäude ist ein wichtiger Teil davon, es wird noch in diesem Jahr das neue Berlin Institute for Medical Systems Biology, kurz BIMSB ("Bimsbi") beherbergen, einen neuartigen Hort der Interdisziplinarität. Biologie trifft Medizin, trifft Informatik - trifft Kreativität und Kultur. Rajewsky wird das Ganze leiten, entworfen hat er es ohnehin, das Geld aufgetrieben natürlich auch. Den wesentlichen, anderen Teil seines Abenteuers Zukunft will er heute erklären. Genau hier, auf der Baustelle, vielleicht deshalb, weil das Gebäude für ihn einen ersten Traum darstellt, der wahr geworden ist. Sein nächster Traum, einer, der erst noch wahr werden muss, ist ein paar Nummern größer. Das Projekt passt in kein Gebäude und kostet auch ein wenig mehr. Eine Milliarde Euro soll es kosten, finanziert durch Fördermittel der europäischen Union. Alle zwei Jahre gibt es eine solche Summe für sogenannte Flagships. Der Name von Rajewskys Flagship ist Life Time.

Er hätte Pianist werden können. Das Virtuose setzt er aber lieber in der Biomedizin um

Es soll nicht weniger einläuten als einen Paradigmenwechsel in der Medizin. Das jedenfalls erhofft sich der Forscher. Rajewsky schreitet die verschlungene Treppe hinauf, sie ist eine der vielen architektonischen Besonderheiten des neuen Gebäudes. Das BIMSB hat ein offenes Konzept, es wird keine Abteilungen geben, die unabhängig voneinander arbeiten, jeder soll mit jedem reden und wechselwirken können. Noch ist allerdings nichts fertig, überall wird gehämmert, in seinem künftigen Arbeitszimmer in der vierten Etage liegen die Leitungen offen in der Wand. "Wollen wir uns hier hinsetzen?", fragt Rajewsky und stellt zwei Plastikstühle auf den staubigen Estrich. Er ist ein großer Mann von knapp 50 Jahren, mit durchdringendem Blick und jungenhaftem Gesicht. Sein Vater Klaus gilt in Deutschland als Koryphäe der Immunologie, sein nicht ganz unumstrittener Großvater Boris, aus russischem Adel, hat im Zarenreich gedient und in Nazideutschland später die Biophysik begründet.

Nikolaus Rajewsky hätte auch Pianist werden können, neben seiner Promotion in theoretischer Physik in Köln hat er an der Essener Folkwang-Musikhochschule Klavier studiert, sich ein Solorepertoire angeeignet und die künstlerische Reifeprüfung bestanden. Das Virtuose setzt er aber lieber in der Biomedizin um, nicht ohne Referenz auf die Physik.

"Die wissenschaftliche Revolution, die wahrscheinlich am meisten die Welt verändert hat, war die Entdeckung der Mechanik durch Isaac Newton und Zeitgenossen." So beginnt Rajewsky sein Gleichnis, das erklären soll, worum es geht - die Revolution in den Lebenswissenschaften, ein komplett anderes Denken über das Leben an sich. Das ist in Zeiten wie diesen nicht so einfach zu vermitteln, denn passieren tut ja ohnehin sehr viel. Die Gentherapie kommt in die Klinik, Krebs wird zunehmend von einer lebensbedrohlichen zu einer chronischen Krankheit. Und es gibt Projekte wie den Human Cell Atlas, eine für sich genommen schon monströs anmutende Unternehmung, die jeden Zelltyp im menschlichen Körper kartieren will. Mit modernsten Verfahren, die es erstmalig ermöglichen, Zellen tatsächlich einzeln zu untersuchen (siehe Kästen).

"Ich habe noch nie erlebt, dass ein solcher Fortschritt in den Methoden zu einer solchen Explosion an Veröffentlichungen geführt hat", sagt Rajewsky. "Egal, welches Topjournal sie aufschlagen, fast alle aufregenden Paper haben mit den neuen Technologien zu tun." Nun wird dieses Potenzial im Verbund genutzt. Weltweit sind Hunderte Wissenschaftler aus Biologie und Informatik am Human Cell Atlas beteiligt, er soll das Verständnis menschlichen Lebens und seiner kleinsten funktionellen Einheiten massiv erweitern. Als einer von zwei Deutschen ist Rajewsky Mitglied im Organisationskomitee des internationalen Großprojekts, das ja für sich genommen schon gewaltig ist. Immerhin hat der Mensch 100 Billionen Zellen, die in Hunderten Geweben organisiert sind.

Die Idee des Flagships ist, den Blick viel weiter in die Zukunft zu werfen

Und dennoch, so allumfassend das auch klingen mag: Rajewsky reicht der Human Cell Atlas nicht. "Diese Aktivitäten haben primär zum Ziel, gesunde Zellen zu erforschen. Das ist auch sehr wichtig, aber unsere Vorstellung, die Idee des Flagships ist, den Blick viel weiter in die Zukunft zu werfen." Rajewsky will den Verlauf von Krankheiten studieren. Wie wird ein Organ krank, wie reagiert es auf eine Therapie, wie sieht es danach aus, was kann ein Arzt aus den einzelnen Zellen des Kranken lesen? Darum geht es in dem Eine-Milliarde-Euro-Projekt. Und damit kommt Rajewsky zu seinem Gleichnis und zu Newton zurück - zu dem, was die Leistung des Briten erfordert hat. "Zuerst wurden damals die Instrumente erfunden, Quadranten und Teleskope, mit denen man die Bewegungen der Planeten und die Position der Sterne genau kartieren konnte."

Die Analogie zum Teleskop besteht Rajewsky zufolge in der Kombination all jener Methoden, die gerade lebenswissenschaftliche Labors auf der ganzen Welt erobern. Es gibt zum Beispiel eine neue Art von Stammzellen, iPS-Zellen genannt. Aus diesen Zellen lassen sich Miniorgane im Labor züchten. Diese Gebilde werden Organoide genannt und besitzen meist die typische Gewebestruktur eines echten Organs. Es gibt zudem die neue Genschere Crispr-Cas, mit deren Hilfe sich das Erbgut, auch in solchen Organoiden, gezielt verändern lässt. Crispr macht es inzwischen sogar möglich, Erfahrungen der Zelle im Erbgut zu notieren - ein Gedächtnis, das von Wissenschaftlern später recht einfach gelesen werden kann. "Wir erfahren dann, was diese Zelle so alles erlebt hat", sagt Rajewsky. Und es gibt eben all die weniger bekannten, aber immens wichtigen Verfahren, die überhaupt den Blick in einzelne Zellen ermöglichen. Die Pioniere dieser Techniken leben zu einem nicht unerheblichen Teil in Europa, insbesondere Organoide aus Stammzellen werden in Labors in den Niederlanden und in Österreich auf Weltklasseniveau entwickelt.

Teleskope also. Die modernen Methoden sind nicht weit weg von Rajewskys Gleichnis, weil sie sehr viele neue Daten liefern. "Die Astronomen Tycho Brahe und Johannes Kepler konnten dank der neuen Instrumente unfassbar genaue Messungen und Analysen vornehmen - und zeigen: Aha, dies bewegt sich so und das bewegt sich so." Etwa in dieser Art stellt er sich das mit den neuen Methoden auch für die Zellbewegung vor. Allerdings muss man mit den Daten etwas anfangen können. "Als Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz die Infinitesimalrechnung erfanden und Newton die Bewegung mechanisch erklärte, konnte man Bewegungen berechnen - und zwar nicht nur in ihrem Moment beschreiben, sondern auch vorhersagen oder als Konsequenz der Vergangenheit darstellen."

Es sei etwas Fundamentales, sagt Rajewsky, wenn aus der Bewegung und dem Verständnis der Kräfte, die dieser Bewegung zugrunde liegen, die Gegenwart erklärt werden könne. Wobei auch Zellen keine statischen Einheiten sind, sie verändern sich, ganz gleich, ob sie gesund oder krank sind. "Zellen bewegen sich auf zeitlichen Bahnen - Trajektorien, wie wir es nennen", sagt Rajewsky. Diese Bewegung finde auf der Ebene der Genexpression statt, also in jenem Raum, in dem die Information des Erbguts in eine Funktion übersetzt wird. "Das ist ein hochdimensionaler Raum. Aber zeitlich gesehen bewegt sich die Zelle in diesem komplexen Raum in eine Richtung. Und was wir wollen, ist diese Richtung erklären und vorhersagen zu können." Man wisse im Prinzip, welche Kräfte diese Bewegungen bestimmen. Genetische Mutationen zählen dazu. "Es geht darum, all das zu begreifen." Und die neuen Methoden sind dafür unentbehrlich. Außerdem, darum die Bewerbung als Flagship-Projekt, benötigt man Geld. Aber reicht das? Was braucht man noch?

Wenn alles klappt, kann das Projekt Life Time in drei Jahren richtig loslegen

Rajewskys künftiges Arbeitszimmer im vierten Stock ist überschaubar groß, ein Raum mit Blick nach Westen, auf den Campus der Humboldt-Universität. Es gibt dort Forschungslabors und Ausbildungszentren vieler Fachrichtungen. Das ist anders als in Berlin-Buch, wo Rajewsky am Max-Delbrück-Centrum vor zwölf Jahren die Nachfolge des deutschen Molekularbiologen Jens Reich angetreten hat.

Rajewsky kam damals aus den USA, wo er unter anderem an der Rockefeller University geforscht hatte und in verschiedene Bereiche der Wissenschaft und der Zusammenarbeit Einblick bekam. Der Begriff der Interdisziplinarität ist für den Forscher vermutlich bedeutsamer als für viele andere in Deutschland. Für Rajewsky ist sie essenziell. Sie geht auch über die Naturwissenschaften hinaus.

Als der Bioinformatiker vor vier Jahren die Ehrendoktorwürde an der Universität La Sapienza in Rom verliehen bekam, spielte er zum Dank zwei Suiten von Rachmaninow. Für Life Time ist Musik allerdings nicht entscheidend. "Ich glaube, was die Infinitesimalrechnung für die Mechanik und die Berechnung von Planetenbahnen gewesen ist, das sind künstliche Intelligenz und Maschinenlernen heute für die Zellbiologie", sagt der Forscher. Mithilfe neuester Datentechniken wollen er und seine Mitstreiter die ungeheuren Mengen an Informationen verstehen, die das Flagship-Projekt für alle Dimensionen im Raum der Zelle erfassen wird. Dafür hält Rajewsky allerdings Strukturen für nötig, die es in Europa bislang nur vereinzelt gibt.

"Wir haben hier Universitäten mit jahrhundertealter Tradition, die sich auf ihrem Campus abschotten. Mit unserem Flagship wollen wir einen Anreiz dafür schaffen, diese Abschottung aufzugeben, sich zusammenzutun, um kompetitiv zu bleiben." Das Ziel sei eben nicht, ein paar tolle Paper zu publizieren, bis das Projekt dann irgendwann beendet ist. "Wir wollen das Flagship nutzen, strukturell wirklich etwas zu bewegen. Man kann nicht plötzlich Superforschung machen, wenn die Leute dafür fehlen." Daher gehe es auch darum, jungen Menschen eine entsprechende Ausbildung zu bieten.

"Wir können mit diesem Projekt an die europäische Historie anknüpfen"

"Natürlich weiß ich nicht, ob wir am Ende wirklich in der Lage sein werden, das Schicksal von Zellen und die Entstehung von Krankheiten im Einzelfall vorherzusagen. Aber an dem enormen Fortschritt im Verständnis dieser Prozesse habe ich keine Zweifel." Das habe alles auch nichts mit dem Human Cell Atlas zu tun. "Wir können mit diesem Projekt an die europäische Historie anknüpfen." Bis es so weit ist, dauert es aber noch eine Weile. In der kommenden Woche wird der Antrag in Brüssel gestellt, damit gilt es die erste Hürde zu nehmen und in die engere Auswahl zu kommen. Welche anderen Projekte sich bewerben, ist noch nicht bekannt. Wenn alles klappt, kann Life Time in drei Jahren richtig loslegen. Die europäischen Mühlen mahlen selbst in Zukunftsdingen langsam.

Was aber, wenn es am Ende nicht klappt, mit dem Flagship? "Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Aber die Idee, die unserem Flagship zugrunde liegt, ist zwingend", sagt Rajewsky. Er habe das, was das Konsortium machen wolle, einem amerikanischen Kollegen erzählt, einem Topkrebsforscher. Der hätte allzu gern mitgemacht. "Für mich ist klar: Wenn wir das in Europa nicht machen, wird es woanders stattfinden. Aber falls wir das Geld bekommen, könnten wir mit unserem Konsortium die Nase vorn haben."

© SZ vom 17.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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