Zehn Jahre ISS:Die teuerste WG aller Zeiten

Lesezeit: 6 min

Seit zehn Jahren wird an der Internationalen Raumstation gebaut: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse des 100-Milliarden-Euro-Projekts sind kümmerlich.

Alexander Stirn

Projekte, die bereits vor dem Start in den Himmel gelobt werden, haben es naturgemäß schwer. Insofern konnte die Ausgangsposition der Internationalen Raumstation ISS kaum schlechter sein.

Sagenhafte 100 Milliarden Euro hat die Station bislang gekostet. (Foto: Foto: Nasa)

Als "Weltwunder für das neue Jahrtausend" wurde sie Mitte der 1990er Jahre gepriesen, als "größtes Bauvorhaben seit den Pyramiden", gar als "Forschungsstadt im Weltraum".

Und als dann am 20.November 1998, mit dem russischen Modul Sarja das erste Bauteil in die Umlaufbahn geschossen wurde, schwärmten prominente Menschen in aller Welt von einem historischen Tag.

Die Grenzen des Wissens sollte die neue Raumstation sprengen. Zehn Jahre später hat sie viel von ihrem Glanz verloren. Noch immer ist das kosmische Konglomerat von Wohncontainern eine Baustelle. Sagenhafte 100 Milliarden Euro hat die Station bislang gekostet. Für die Amerikaner, einst treibende Kraft hinter dem Vorhaben, ist sie ein ungeliebtes Kind geworden. Und die wissenschaftlichen Durchbrüche, mit denen das Projekt einst Politikern schmackhaft gemacht wurde, sind ausgeblieben.

Woher sollten die auch kommen, wo kaum Zeit für Forschung bleibt? Als die ersten Pläne der ISS vorgestellt wurden, sollten Astronauten 27 Stunden ihrer wöchentlichen Arbeitszeit wissenschaftlichen Experimenten widmen.

Tatsächlich waren es zuletzt nach Berechnungen der Nachrichtenagentur Reuters, gerade einmal 2,5 Wochenstunden. Die Wartung der Lebenserhaltungssysteme verschlingt zehnmal so viel Zeit wie bei der Planung veranschlagt - ursprünglich waren dafür nur mehrere Stunden vorgesehen.

Neben falschen Vorstellungen und kaum beherrschbarer Technik werden die Astronauten nun vor allem durch den stockenden Baufortschritt gebremst. Eigentlich sollte die Station längst fertig sein, aber nach dem Absturz der US-Raumfähre Columbia vor fünf Jahren ist der bis dahin bereits verzögerte Zeitplan komplett durcheinander geraten.

Frühestens im August 2009 kann nun ein weiteres Wohnmodul an den außerirdischen Vorposten der Menschheit geschraubt werden. Sechs Astronauten sollen dann auf Dauer in der Raumstation leben und arbeiten, was eigentlich schon seit mehreren Jahren der Fall sein sollte. Derzeit sind drei Menschen an Bord, und die sind mit den täglichen Routineaufgaben gut ausgelastet.

Weil die Weltraumbewohner kaum Zeit für Experimente haben, wurden die Versuche an Bord der ISS weitestgehend automatisiert - was indirekt beweist, dass es für diese Forschung eigentlich keine Astronauten bräuchte. Experimente werden heute in Standard-Behältern ins All geliefert.

Als Laborant muss der Astronaut muss nur noch Knöpfe drücken und sich wieder anderen Aufgaben zuwenden. Fast alle Versuche können von der Erde überwacht, manche sogar gesteuert werden. Den viel beschriebenen Wissenschaftsastronauten, der in der Schwerelosigkeit Kristalle züchtet und mit Pipetten hantiert, gibt es nicht.

Es braucht ihn auch nicht. Jeder halbwegs intelligente Roboter könnte - so lange keine unüberwindbaren Probleme auftauchen - dessen Aufgaben übernehmen.

"Mit Ausnahme von Experimenten am Menschen selbst, lassen sich im Forschungsbereich fast alle Versuche besser, präziser und kostengünstiger durch unbemannte Missionen durchführen", kritisierte die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) bereits vor dem Start der Raumstation.

"Das ist noch immer aktuell", sagt DPG-Sprecher Marcus Neitzert, "nach wie vor stehen wir der bemannten Raumfahrt sehr verhalten gegenüber." Wenn man die Kosten betrachte, sei der wissenschaftliche und technologische Nutzen einer Raumstation sehr beschränkt.

Die Amerikaner interessiert nur noch der Mond

Während das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt auf der ISS noch "innovative Materialforschung" betreiben und die "Horizonte in der Physik" erweitern möchte, hat sich die amerikanische Raumfahrtbehörde Nasa von diesen Zielen weitgehend verabschiedet.

Das vom amtierenden US-Präsidenten Bush iniziierte Mondprogramm riss in den vergangenen Jahren immer größere Finanzlücken, so dass die Nasa ihr ISS-Forschungsbudget um weit mehr als die Hälfte auf 200 Millionen Dollar zusammenstreichen musste. Eine Reihe ambitionierter Projekte, darunter eine Zentrifuge für Experimente in künstlicher Schwerkraft, wurden gestoppt.

Europa hat bislang etwa fünf Milliarden Euro in das technologische Meisterwerk ISS investiert, vier weitere werden folgen. Die Raumfahrtindustrie freut sich, andere Branchen zeigen kaum Interesse. Ein einziges Experiment im Auftrag der deutschen Industrie ist bislang auf der Raumstation geflogen, ursprünglich waren 30 Prozent der ISS-Nutzung für kommerzielle Aktivitäten reserviert.

"Wir sind am Ball, aber es ist nicht einfach", sagt Volker Sobick vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Die 18 Monate bis zwei Jahre, die ein ISS-Experiment gewöhnlich an Vorlauf benötige, seien für die Produktentwicklung meist zu lang. Deutlich ermutigender sei das Interesse von Firmen an Parabelflügen oder Forschungsraketen. "Oftmals reichen bereits einige Sekunden oder Minuten an Schwerelosigkeit, um die gewünschten Ergebnisse zu bekommen", sagt Sobick.

Der US-Astronaut Rick Linnehan bei einem Außeneinsatz an der ISS. (Foto: Foto: Nasa)

Nasa-Chef Michael Griffin, der keinen Hehl daraus macht, dass er die Raumstation nie gebaut hätte, sagt: "Um die ISS fertigzustellen, mussten wir Wissenschaft und Technologie auf ein Mindestmaß herunterfahren." Die Raumstation verkommt zu einer reinen Wohngemeinschaft mit Selbsterhaltungszweck, 360Kilometer über der Erdoberfläche. Statt auf Strömungsphysik und Materialforschung konzentriert sich die amerikanische Weltraumforschung auf die Frage, wie man Menschen künftig zum Mond oder Mars bringen kann.

Astronauten werden derzeit allenfalls als Versuchskaninchen gebraucht. Interplanetare Nierensteine werden ebenso zum Untersuchungsobjekt, wie der Muskelschwund und die Belastung durch kosmische Strahlung. Letztlich, monieren Kritiker, untersucht die bemannte Raumfahrt nur noch sich selbst. Sie wird zu ihrer eigenen Rechtfertigung.

Doch selbst in dieser Funktion liefert sie unbefriedigende Ergebnisse, wie der ehemalige Nasa-Forscher Lawrence Kuznetz bemängelt. "Während medizinische Studien auf der Erde Hunderte oder Tausende Menschen umfassen, gibt es in der Schwerelosigkeit nur eine Handvoll Probanden", sagt Kuznetz. Mitunter gebe die Nasa, um die medizinische Privatsphäre ihrer Astronauten zu schützen, nicht einmal grundlegende Gesundheitsdaten an die Forscher weiter.

Einst als wissenschaftliches Herzstück der Raumstation gefeiert, bietet das amerikanische Labormodul Destiny heute ein eher trauriges Bild. Dreizehn standardisierte Forschungsschränke, jeder so hoch wie eine Telefonzelle, hätten darin Platz. Doch Destiny ist weitgehend ungenutzt. Da den Amerikanern auch die Hälfte des europäischen Forschungsmoduls Columbus zusteht (als Ausgleich für die Betriebs- und Transportkosten des Labors), sollen die wenigen Forschungsschränke der Amerikaner nun dort aufgestellt werden. Destiny wird Lagerraum, Toilette und Schlafzimmer.

Europa hat von der amerikanischen Sparmaßnahme zunächst einmal nichts: Das ISS-Abkommen, das alle 16 beteiligten Staaten unterschrieben haben, regelt genau, wie die anfallende Arbeit auf der Station verteilt wird.

Von der Zeit, die der Crew für die Nutzung der Station zur Verfügung steht, entfallen auf europäische Vorhaben gerade einmal 8,3 Prozent - falls nicht wieder ein dringender Notfall dazwischen kommt: Als Ende Mai die Toilette der Raumstation versagte, hat das nicht nur die Astronauten betroffen. Der Vorfall hat Nachrichtenredaktionen rund um die Welt in Aufregung versetzt, weit mehr als jedes Forschungsergebnis von der ISS.

Für die beteiligten Forscher mag es spannend sein, ihre oftmals in der Grundlagenforschung angesiedelten Experimente im All zu wissen. Aber selbst innerhalb der Wissenschaftsgemeinde stoßen Ergebnisse aus der bemannten Raumfahrt generell nur bei einem kleinen Kreis von Forschern auf Interesse, wie eine Untersuchung des Houston Chronicle zeigt: Als die US-Zeitung vor einigen Jahren die Resonanz auf einen Forschungsflug des Spaceshuttle untersuchte, erlebte sie eine Enttäuschung.

An Bord war damals ein Experiment namens "Neurolab", das die Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf Gehirn und Nervensystem untersuchen sollte. Es galt als das Beste vom Besten. Zwei Mediziner flogen mit. Die Ergebnisse wurden in angesehenen wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht. Das war es aber auch.

Ein Golfschläger ist das aufregendste Spin-off-Produkt

Von anderen Autoren zitiert - eine wichtige Währung in der Wissenschaft - wurden die Erkenntnisse unverhältnismäßig selten. "Die Zahl der Zitate spricht nicht für überwältigende und einflussreiche Wissenschaft", sagt David Pendlebury, der die Untersuchung leitete. Immerhin eine Milliarde Dollar hatte der "Neurolab"-Flug gekostet. Für die mehr als hundertmal so teure Raumstation gibt es entsprechende Studien nicht.

Auch die Hoffnung, die ISS würde die Menschheit mit nützlichen Abfallprodukten, sogenannten Spin-offs, beglücken, hat sich bislang nicht erfüllt. Die Liste, die die Nasa im Internet präsentiert, ist eher mager: ein Wasserreiniger, eine Mutter, die festgedrückt und nicht geschraubt werden muss, und Golfschläger mit einem Dämpfer aus der Weltraumforschung - der verspricht "größere Kontrolle und ein gediegeneres Gefühl". Die "Verbesserung der Lebensqualität auf der Erde", mit der die ISS-Partner erst vor wenigen Monaten wieder für die Raumstation geworben haben, fehlt noch.

Vielleicht ist es nach zehn Jahren an der Zeit, die Genesis des künstlichen Erdtrabanten ins Gedächtnis zu rufen. Die Station war, auch wenn sie immer so angepriesen wurde, nie als Forschungsprojekt geplant. Als Ronald Reagan die Nasa 1984 mit der Entwicklung beauftragte, wollte er die Sowjets übertrumpfen. Als Bill Clinton in den 1990er Jahren die Russen mit an Bord holte, wollte er verhindern, dass deren Raumfahrt-Experten in feindlich gesinnte Staaten abwandern. Die Station war also stets ein Spielball im globalen Machtpoker.

Und sie hat - fernab von Plasmakristallen und Nierensteinen - durchaus einiges bewirkt: Dass 16 Nationen gemeinsam den Weltraum erobern, dass sie sich ein technologisches Konzept und einen rechtlichen Rahmen überlegen, dass sie sich trotz aller Probleme zusammenraufen, ist tatsächlich beispiellos und ein Vorbild für die weitere internationale Zusammenarbeit. Wenn auch ein ziemlich teures.

© SZ vom 15.11.2008/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: