Ärzten tritt man in Österreich mit noch größerer Ehrfurcht entgegen als anderswo. Der verehrte Herr Doktor und mehr noch der Professor werden allenthalben gehätschelt und gepflegt. Doch dass Ehre nicht immer gebührt, wem sie zuteil wird, müssen die Österreicher nun schmerzvoll lernen.
Ein Wissenschafts-Skandal erschüttert die Republik: Ärzte an der Urologischen Klinik der Medizinischen Universität Innsbruck (MUI) haben hunderte Patienten illegal mit Stammzellen behandelt; und die Verantwortlichen in Universität und Politik bemühten sich mehr um Vertuschung denn um Klärung.
Doch eine Verschnaufpause ist ihren Landsleuten nicht vergönnt. Es bahnt sich bereits der nächste Skandal an, dessen Explosionskraft womöglich noch größer ist: An derselben Klinik haben Ärzte Studien an Kindern vorgenommen, bei denen sie gegen Gesetze und Patientenrechte verstoßen haben.
Schon seit Wochen tobt die Stammzell-Fehde in Tirol. Die höchsten politischen Ebenen sind involviert. Inzwischen ist schon nicht mehr klar, was für mehr Unmut sorgt: das Fehlverhalten der Ärzte, die Patienten ohne deren Wissen und ohne Genehmigung gefährdet haben - oder die Versuche zahlreicher Honoratioren, die Sache zu vertuschen. "Etwas ist faul im Staate Österreich", schrieb jüngst das Wissenschaftsmagazin Nature, das den Stammzell-Eklat aufgebracht hat.
Alles begann als atemberaubende Erfolgsgeschichte. Mediziner um den Oberarzt Hannes Strasser erlangten Weltruhm, als sie im Juni 2007 im Fachjournal Lancet über erstaunliche Heilerfolge mit einer neuartigen Stammzelltherapie gegen Inkontinenz berichteten. Die Ärzte entnahmen ihren Patienten Gewebe aus dem Oberarm und spritzten daraus gewonnene Muskelzellen in den Blasen-Schließmuskel der Kranken.
Fortan möge kein Urin mehr aus der Blase tröpfeln, so die Hoffnung. Bei mehr als 90 Prozent der Patienten habe das geklappt, berichteten die Mediziner damals stolz. Der Lancet feierte eine "neue Ära in der Behandlung der Inkontinenz".
Andernorts kein Erfolg
Nur: Andernorts hatten Ärzte mit der gleichen Behandlung keinen Erfolg. Zu ihnen gehörte auch ein Team vom Klinikum rechts der Isar der TU München. "Es konnte nur bei einem von 14 Patienten eine langfristige Heilung erzielt werden", so das ernüchternde Fazit der Urologen um Florian May.
Sie gaben, wie andere Häuser auch, die revolutionäre Therapie schnell wieder auf. Argwohn war da in Fachkreisen längst aufgekommen. "Die Innsbrucker Ergebnisse waren einfach zu gut", sagt Jürgen Gschwend, Chef der Urologie am Klinikum rechts der Isar, unter dessen Vorgänger die Versuche vorgenommen worden waren.
Nun gibt es eine einfache Erklärung für die überraschend guten Ergebnisse: Sie waren offenbar gefälscht. Zu diesem Schluss kommt die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages), die die Vorgänge im Auftrag des Wiener Gesundheitsministeriums unter die Lupe genommen hat.
Es habe womöglich gar keine richtige Studie gegeben, schreibt die Ages in ihrem Untersuchungsbericht. Noch dazu hatte die Ethikkommission der MUI die Versuche nicht genehmigt, obwohl alle Studien an Menschen eine solche Zustimmung benötigen.
Das besagt nicht nur die Deklaration von Helsinki, sondern auch die Gesetze Österreichs und der EU. Diese fordern auch die Aufklärung der Patienten.
Doch in Innsbruck wurde den Kranken nicht einmal klar gemacht, dass sie sich auf eine experimentelle Therapie einließen. Vielmehr liegen der Süddeutschen Zeitung Briefe an Patienten vor, in denen Oberarzt Strasser die Methode als "in Österreich bereits zugelassen" bezeichnet. Es sei "davon auszugehen, dass der Therapieerfolg über längere Zeit anhalten wird", verspricht er.
Die unseriösen Heilversprechen haben einen Beigeschmack: Hinter der Therapie stecken auch finanzielle Interessen. Die Patienten mussten dafür etwa 14.000 Euro aus eigener Tasche bezahlen - im Rahmen einer Studie ausgesprochen unüblich. Allein 9000 Euro gingen an die Firma Innovacell, welche die Zellen aus dem Oberarm aufbereitete. An der Biotech-Firma war Hannes Strasser zur Zeit der Versuche mit 13,9 Prozent beteiligt.
Der Mann, der für Aufklärung sorgen will, wird gefeuert
Inzwischen ist Oberarzt Strasser suspendiert. Der Mann, der bis heute der Ansicht ist, er habe nichts Falsches getan, darf an der MUI keine Patienten mehr behandeln. Doch der Skandal ist längst nicht ausgestanden. Denn befremdlich sind keinesfalls nur die illegalen Patientenversuche.
Es darf auch an der Aufrichtigkeit in Österreichs Wissenschaftsbetrieb gezweifelt werden. So soll das Gesundheitsministerium anfänglich versucht haben, die Angelegenheit zu vertuschen: "Ein Mitarbeiter hat wiederholt nachgefragt, ob wir nicht im Nachhinein ein Votum erstellen könnten", sagte ein Mitglied der Ethikkommission der SZ und lieferte auch eine Erklärung: "Urologen sind nun einmal die einflussreichsten Ärzte. Die alten Männer an der Spitze der Macht brauchen sie für ihre wertvollsten Teile." Das Ministerium bestreitet solche Bemühungen. Eine zuständige Stelle für den Umgang mit Wissenschaftsbetrug gibt es in Österreich bis heute ebenso wenig wie offizielle Regeln.
Bemerkenswert ist, dass sich die Vorwürfe im Ages-Untersuchungsbericht nur gegen Oberarzt Strasser richten. Der Chef der Urologischen Klinik, Georg Bartsch, wird dagegen nicht belastet. Dabei steht Bartsch mit auf der Lancet-Publikation - und zwar als Letztautor, also am bedeutendsten Platz einer wissenschaftlichen Veröffentlichung. Von den Unregelmäßigkeiten habe er trotzdem nichts gewusst, beteuert Bartsch. Sein Mitarbeiter Strasser habe ihn nur "aus Respekt" auf das Papier geschrieben.
Heute scheint es mit dem Respekt nicht mehr weit her zu sein: Strasser belastet Bartsch schwer: "Er war der Studienleiter. Ich weiß nicht, was ihn dazu getrieben hat, zu behaupten, er hat damit nichts zu tun", sagte er dem Magazin Profil. Ohnehin sind Ehrenautorschaften auch an der MUI unzulässig - die entsprechende Satzung hat Bartsch selbst mitverfasst. Und mit seiner Unterschrift hat er der Zeitschrift Lancet versichert, den Inhalt der Publikation zu kennen.
Während also manche davonzukommen scheinen, wurde ausgerechnet der Mann geschasst, der den Skandal aufklären wollte: Der mächtige siebenköpfige Universitätsrat der MUI entließ vor wenigen Tagen Rektor Clemens Sorg fristlos. Der Deutsche Sorg spricht von einer "österreichischen Lösung".
Auch andere halten den sehr speziellen Umgang mit dem Skandal für eine nationale Eigentümlichkeit: "In Österreich werden Nestbeschmutzer exekutiert", sagt ein Insider. Antideutsche Gefühle seien im Spiel. Ein anonymer Brief an den Anwalt des gebürtigen Innsbruckers Bartsch spricht von "deutschem Welteroberungswahn"; es sei eine "deutsche Uni-Camorra, die die Klinik systematisch zerstört, alle Tiroler eliminieren will und glaubt, dass sie sich alles erlauben kann".
Der Universitätsrat bestreitet, dass die Absetzung des Rektors mit den Fälschungen zu tun habe. Vielmehr sei Sorg seit Monaten im "wirtschaftlichen Blindflug unterwegs", sagt das Unirats-Mitglied Richard Soyer. Allerdings habe auch eine Rolle gespielt, räumt Soyer ein, dass Sorg durch "unwahre Äußerungen in in- und ausländischen Medien das Ansehen der Universität geschädigt" habe.
Vom Rauswurf des Rektors hat Urologie-Chef Bartsch profitiert. Denn der Rektor war drauf und dran, auch ihn zu suspendieren. Doch nun hat Bartsch neue Sorgen. Auch auf den illegalen Kinderstudien steht sein Name. Hunderte Kinder wurden an der Kinderurologischen Abteilung seiner Klinik ohne Zustimmung der Ethikkommission operiert und mit Medikamenten behandelt.
Eines davon, ein Gel mit der aktivsten Form des Sexualhormons Testosteron (Dihydrotestosteron), ist in Österreich nicht einmal zugelassen. Dennoch schmierten es die Ärzte kaum drei Jahre alten Jungen monatelang täglich auf den Penis. Die Kinder mussten wegen einer fehlgebildeten Harnröhre operiert werden; das Gel sollte entstehende Narben mindern.
Ob die Eltern ordentlich aufgeklärt wurden, prüft die Ages derzeit. In jedem Fall waren die Kinder nicht versichert, wie dies üblich ist, wenn Menschen ihre Gesundheit für die Forschung riskieren. "Wir haben geglaubt, dass kein Ethikvotum nötig ist", sagt Christian Radmayr, der Leiter der Kinderurologie.
Es habe sich nicht um neue Verfahren gehandelt, sondern um etablierte Methoden. An der Urologischen Klinik sei es üblich, dass dann keine Genehmigung für Studien eingeholt würde. Das bestätigt auch ein früherer Mitarbeiter, der unerkannt bleiben will: "In der Regel funktioniert das an der Klinik so: Es werden Daten gesammelt. Dann wird eine Studie draus gemacht. Und wer nicht spurt, der fliegt."
Klinikdirektor Bartsch selbst schiebt reflexartig die Verantwortung auf seine Mitarbeiter ab. Auch mit den Kinderstudien habe er nichts zu tun. Dabei gelten medizinische Versuche an Kindern als besonders sensibles Feld. Dass zum Schutz nicht einwilligungsfähiger Personen besonders strenge Auflagen erfüllt werden müssen, sollte einem Klinikdirektor hinlänglich bekannt sein.
Kein Ethikvotum? Macht nichts, Georg! Bis bald in Naples!
In Bartschs Klinik aber hat das Umgehen der Ethikkommission System. Eine weitere Studie mit ihm als Autor ist ohne Ethikvotum ausgekommen. Dass eines nötig gewesen wäre, wussten die Ärzte diesmal gewiss. In ihrer Publikation bemerken sie ausdrücklich, sie hätten mit Erlaubnis "des lokalen institutionellen Ethikkomitees" gehandelt. Damit meinten sie aber eine "regelmäßige Runde" in ihrem Institut, wie sie in einem Papier zugeben, das der SZ vorliegt - einen inoffiziellen Kreis also, der keineswegs befugt ist, klinische Studien zu bewilligen.
Vermutlich aufgeschreckt durch Nachforschungen, klärte Bartsch das Problem vor kurzem mit einer E-Mail an den Herausgeber der Zeitschrift Urology, in der die Studie erschienen war. Es war ein Kontakt zwischen Freunden. Bartsch beichtete die wahre Identität der Ethik-Runde. "See you in Naples", verabschiedete er sich von dem Mann, der ihm denn auch weitere Unannehmlichkeiten ersparte: "That's fine, Georg."
Ob dem Herausgeber schon klar ist, dass die Studie offenbar auch wissenschaftlich nicht hält, was sie verspricht? "Sämtliche Patienten" hätten ja von vornherein gewusst, wie sie behandelt werden, versuchen die Innsbrucker Urologen das fehlende Ethikvotum in einer Stellungnahme zu verteidigen. Bartsch bestätigt dies der SZ am Telefon.
In der Veröffentlichung behauptet das Team aber, die Studie sei "doppelblind" durchgeführt worden. Das Wort ist ein wissenschaftliches Qualitätsmerkmal; es bedeutet, dass weder Patienten noch behandelnde Ärzte wissen dürfen, wer welche Therapie bekommt. Sich damit zu schmücken ist, einfach ausgedrückt, Forschungsbetrug.