Vogelgrippe:Die Seuche vor den Toren

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Die Einschläge kommen näher. Noch vor wenigen Wochen schien die Vogelgrippe ein Problem des fernen Ostens zu sein, eine Seuche der schmuddeligen, mit Federvieh vollgestopften Hinterhöfe Asiens.

Patrick Illinger

Dann, im April dieses Jahres, starben plötzlich Tausende Wildvögel an einem abgelegenen See im Nordwesten Chinas. Was die Öffentlichkeit wenig erregte, ließ Infektiologen erschaudern.

Huhn (Foto: Foto: Reuters)

Offenbar war das zuvor auf Hühner spezialisierte Influenza-Virus H5N1 mutiert und hatte gelernt, neue Tierarten anzufallen. Als vor einigen Wochen die Vogelgrippe am Ural aufflammte, wurde die Marschrichtung des Erregers sichtbar. Doch das Gebirge zwischen Asien und Europa liegt in den Köpfen der Europäer noch immer fern im Osten. Daher kommt der Ruf nach Schutzmaßnahmen erst jetzt auf - jetzt, da die Hühner in der Türkei, in Rumänien und auch erstmals auf dem Boden der Europäischen Union, in Griechenland, sterben.

An diesem Mittwoch werden die Beratungen der EU-Minister und auch der deutschen Länderchefs vom Thema Vogelgrippe beherrscht sein. Weil sich kaum vorhersagen lässt, wie sich der Erreger H5N1 weiter verbreitet und ob er am Ende womöglich zu einem unter Menschen grassierenden Supervirus mutiert, stehen die politisch Verantwortlichen vor einer fast unlösbaren Aufgabe. Die schwammige Faktenlage steht im umgekehrten Verhältnis zu den grauenhaften Folgen, die ein gewandelter Influenza-Erreger - theoretisch und im schlimmsten Fall - haben könnte.

Europa muss sich nun sowohl gegen die konkrete, unmittelbare Gefahr einer Tierepidemie wappnen als auch Vorkehrungen für den Ernstfall einer menschlichen Pandemie treffen, von dem völlig unklar ist, ob und wann er eintreffen wird. In dieser komplexen Situation ist es womöglich hilfreich, die beiden Bedrohungslagen getrennt zu betrachten.

Biologische Realität verkannt

Teil eins: Die Tierseuche. Die aktuelle Version des H5N1-Virus hat bewiesen, dass es in der Lage ist, Hühner, Enten, Schwäne und jede Menge wild lebender Vögel nicht nur anzustecken, sondern auch mit ungewöhnlich hoher Rate zu töten. Das Federvieh in der gesamten EU ist in Lebensgefahr und gehört in den Stall. Flächendeckend müssen Veterinäre jedes Aufflammen der Vogelgrippe überwachen. Und die EU sollte nicht nur verhindern, dass lebende Vögel eingeführt werden, sondern auch Massentransporte innerhalb der Union einschränken.

In dieser Situation ist es geradezu fahrlässig, wenn die Agrarminister einzelner Bundesländer vor unbequemen Entscheidungen zurückschrecken und regional abweichende Vorkehrungen anordnen. Ein Virus, das innerhalb weniger Wochen Kaukasus, Ural und Karpaten überwunden hat, wird kaum vor einem deutschen Mittelgebirge Halt machen. Jene EU-Beamten, die nun von "Risikozonen" und den "lokalen Gegebenheiten" angepassten Maßnahmen sprechen, verkennen die biologische Realität. Ebenso wenig beruhigend wirken Experten, die darauf hinweisen, dass Zugvögel erstens von Nord nach Süd ziehen und zweitens im Winter nicht nach Deutschland kommen. Enten und Gänse fliegen das ganze Jahr über, in alle Richtungen.

Teil zwei: Die menschliche Pandemie. Wenn Politiker wie Gesundheitsministerin Ulla Schmidt beschwichtigend auf die Bevölkerung einreden, haftet ihren Worten der Makel einer begrenzten Haltbarkeit an. Richtig ist, dass Menschen von dem H5N1-Virus zurzeit nur bedroht sind, wenn sie engen Kontakt mit infiziertem Geflügel haben. Ein Grund, Reisen nach Südosteuropa abzusagen, keine Eier mehr zu essen oder sich nicht mehr aufs Land zu wagen, ist das auf keinen Fall.

Nicht das letzte Gefecht

Die Gefahr liegt vielmehr in dem beständigen Drang des Virus, neue Mutationen seiner selbst auszuprobieren. Die tückische Mikrobe kann die Fähigkeit erlangen, von Mensch zu Mensch zu springen. Gepaart mit hohen Todesraten würde ein solches Virus unvermeidlich eine globale Katastrophe auslösen. Leider ist völlig unklar, ob das in zwei Wochen, in 20 Jahren oder gar nicht geschehen wird. Sicher ist nur, dass es passieren könnte, denn das Grippevirus ist erstaunlich wandlungsfähig und hat die Menschheit immer wieder mit tödlichen Folgen überfallen.

Ein Impfstoff gegen eine für Menschen gefährliche Variante von H5N1 existiert nicht, schlicht deshalb, weil das Virus noch nicht existiert. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass neuartige Medikamente wie das viel zitierte Tamiflu und das weniger bekannte Relenza helfen, auch wenn deren Wirksamkeit nicht umfassend getestet ist. Deren Produktion muss nun schnellstens erhöht werden. Wichtig ist aber auch, diese Mittel nicht wie Schmerztabletten vorbeugend anzuwenden. So wie Antibiotika können auch diese Medikamente resistente Erreger erzeugen, was sie nutzlos macht.

Noch ist nicht absehbar, wie der Kampf gegen H5N1 ausgeht. Sicher ist nur: Es wird nicht das letzte Gefecht im ewigen Wettstreit zwischen Mensch und Mikrobe sein. Das Gefühl der Sicherheit hinter den Schutzwällen der hochtechnisierten Zivilisation ist trügerisch. Viren und Bakterien haben Milliarden Jahre auf dieser Erde verbracht. Gemessen an ihnen, ist die Geschichte der Menschheit eine Episode.

© SZ vom 19.10.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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