Urbane Sicherheit:24 Stunden bis zum Chaos

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Die Bürger in Deutschland sorgen sich über trinkende Jugendliche, denken aber zu wenig daran, dass die Versorgung mit Strom, Gas und Informationen ausfallen könnte. Dabei birgt die zunehmende Vernetzung urbaner Infrastruktur unterschätzte Risiken.

Christopher Schrader

Ein U-Bahnhof irgendwo in Deutschland. Es ist spät abends, der Weg nach draußen führt durch einen Tunnel und eine Treppe hinauf. Wenn der späte Fahrgast eine Beklemmung im Brustkorb fühlt, wie wirken dann die wilden Graffiti an der Wand auf ihn und das Grölen der Bier trinkenden Jugendlichen, das durch die Gänge hallt?

Schwaches Licht, tiefe Schatten - viele Menschen fühlen sich nachts in U-Bahnhöfen nicht sicher. Doch die realen Gefahren einer modernen Stadt stecken oft woanders. Zum Beispiel in der Verletzlichkeit der Versorgungsnetze. (Foto: Stephan Rumpf)

Vielleicht sind dem Fahrgast die Schmierereien ja nur lästig. Vielleicht kennt er die Jugendlichen, die dort oben sitzen. Vielleicht benutzt er in dieser Situation aber auch lieber einen anderen Ausgang. Und vielleicht hängt das alles vom Alter, Geschlecht und Wohnort ab.

"Mit diesem subjektiven Empfinden von Sicherheit haben wir uns bisher wenig beschäftigt", sagt Holger Floeting vom Deutschen Institut für Urbanistik. "Aber es besteht Handlungsbedarf spätestens dann, wenn sich manche Menschen nicht mehr trauen, den öffentlichen Nahverkehr zu benutzen."

"Urbane Sicherheit" ist ein neuer Schwerpunkt im Forschungsprogramm "Zivile Sicherheit" des Bundesforschungsministeriums (BMBF). Dessen Teilnehmer haben sich in der vergangenen Woche in Berlin zu einer Konferenz getroffen und über Stromausfälle, Softwarefehler bei Banken und die Terrorgefahr gesprochen. Aber eben auch über das subjektive Empfinden der Bürger.

"Der öffentliche Konsum von Alkohol ist ein sehr häufig genannter Grund, wenn öffentliche Orte ihren Charakter ändern und als weniger sicher empfunden werden", sagt Floeting, der eine Umfrage bei allen deutschen Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern gemacht hat.

Für das subjektive Sicherheitsgefühl ist meist nicht so sehr das Verbrechen wichtig, sondern das Empfinden von Sauberkeit und Ordnung", bestätigt Dietrich Henckel von der TU Berlin. Wobei Graffiti zumindest die Berliner Bürger nicht beeindruckten. "Es geht eher um Nutzungskonflikte", etwa wenn plötzlich eine Gruppe von Menschen einen Ort für sich entdeckt und damit andere bedrängt oder stört.

Solche Eindringlinge zu vertreiben, ist aber oft kein wirksames Rezept, um das Gefühl von Sicherheit zu stärken. Henckel zitiert die amerikanische Städtetheoretikerin Jane Jacobs: "Erst die Vielfalt der Funktionen produziert Sicherheit." Diese entsteht nicht nur durch Polizei, Videokameras und gute Beleuchtung, sondern auch durch Läden, Gastronomie und Arztpraxen.

Risiken kompetent zu bewerten, sei für die meisten Menschen ohnehin fast unmöglich, sagt der Psychologe Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. "Wir beschäftigen uns viel mit den Dingen, die nur wenige Menschen das Leben kosten, und wenig mit den Gefahren, die viele töten." So berichteten die Medien ausführlich über Seuchen wie Ehec, Sars oder Schweinegrippe, aber kaum noch über das Rauchen.

Eines von Gigerenzers Lieblingsbeispielen stammt aus der Zeit nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Damals benutzten viele Menschen das Auto anstelle des Flugzeugs, das ihnen zu gefährlich erschien. "Darum hat es 1600 zusätzliche Verkehrsopfer gegeben."

Es ist deswegen gut möglich, dass sich Bürger zu sehr über trinkende Jugendliche sorgen und zu wenig über mögliche Ausfälle der selbstverständlich erscheinenden Infrastruktur. "Die Menschen verlassen sich auf solche Systeme, bis diese praktisch unsichtbar werden", sagt der Wirtschaftsinformatiker Volkmar Pipek von der Universität Gießen.

In der Forschung wird das als "Verletzlichkeitsparadox" bezeichnet: Je besser etwas funktioniert, desto gravierender sind die Folgen, wenn es ausfällt. "Ein Stromausfall in mehreren Bundesländern kann sich in 24 Stunden zur nationalen Katastrophe auswachsen", sagt Thomas Petermann vom Büro für Technikfolgenabschätzung des Bundestages (TAB).

Wenn in mehreren Bundesländern der Strom ausfällt, droht Chaos: Ohne elektrische Energie ist bald auch das Telefonnetz am Ende, wenn die Pufferbatterien leer sind. Wasser, Fernwärme und Gasnetz gehören zu den nächsten Ausfallkandidaten. (Foto: dpa)

Das liegt vor allem an den Folgeeffekten. Ohne elektrische Energie ist bald auch das Telefonnetz am Ende, wenn die Pufferbatterien leer sind. Wasser, Fernwärme und Gasnetz gehören zu den nächsten Ausfallkandidaten. Ein TAB-Bericht aus dem vergangenen Jahr zeigt die Folgen am Beispiel des Gesundheitssystems auf.

Wenn nach dem Strom auch Kommunikation und Wasserversorgung ausfallen, können Arztpraxen, Apotheken, Rettungsdienste und Dialysezentren nur noch eingeschränkt arbeiten und kaum mehr medizinische Güter erhalten. Wo Kliniken Notstrom-Aggregate haben, wird der Treibstoff knapp. Am Ende der ersten Woche ohne Strom werde man eine erhöhte Sterblichkeit von Alten und Kranken bemerken, sagt Petermann. Es sei unmöglich, die Folgen eines derartigen Stromausfalls zu beherrschen, sie ließen sich allenfalls mindern.

Das liegt auch daran, dass die Versorgungsnetze so eng verknüpft und voneinander abhängig sind, dass niemand sie mehr durchschaut. "Wir bauen und betreiben diese Systeme praktisch im Blindflug", sagt Wolfgang Kröger von der ETH Zürich. Dabei stützen sich immer mehr Netze auf das Internet. "In der Natur wissen wir, dass Monokulturen anfällig sind, aber in der Technik packen wir alles ins Internet", klagt Jochen Schiller von der Freien Universität Berlin.

Die zunehmend unübersichtliche Infrastruktur regt die Phantasie der Sicherheitsforscher an. Sie malen sich zum Beispiel aus, was im Jahre 2025 passieren würde, wenn die Banken vier Tage lang gelähmt wären. Auslöser in dem Szenario ist ein fehlgeschlagenes Sicherheits-Update einer Bank, sodass normale Überweisungen plötzlich zwei Nullen zu viel haben. Die Banken und die externen Service-Firmen versuchen über das Wochenende, die Probleme zu lösen.

Doch das macht alles noch schlimmer. Am Montag bricht das Chaos aus. Statt wie sonst am Smartphone versuchen Kunden, Bankgeschäfte in Filialen oder per Telefon abzuwickeln. Den Geldhäusern fehlt dafür das Personal und die mit Bargeld ungeübten Angestellten verzählen sich ständig. Krankenhäuser können keine Herzklappen bestellen, weil die vorige Charge unbezahlt blieb. Bis Donnerstag entwickelt sich die Störung zur nationalen Krise. Es gibt Unruhen von Hartz-IV-Empfängern, die am Zahltag mittellos dastehen. Die Regierung erwägt, den Notstand zu verkünden.

Jochen Schiller von der FU Berlin hält dieses Szenario nicht für übertrieben. "Es ist ein grundsätzlicher Fehler, dass wir ständig Neues und Altes kombinieren." Seit Jahrzehnten genutzte Betriebssysteme können ungeahnte Fehler in neuen Chips auslösen, Updates der Software bewirken Ausfälle in alter Hardware. Außerdem machen Menschen Fehler: "In jeder Sekunde werden im Internet 4000 Fehler korrigiert, die auf falsch gesetzten Einstellungen beruhen", sagt er.

Damit es nicht zur Katastrophe kommt, sollten Netzbetreiber kleine Störungen beseitigen, bevor sie sich auswachsen, sagen die Forscher. Thomas Schäfer vom Energieversorger Vattenfall und Kollegen anderer Berliner Versorger haben darum im Rahmen des BMBF-Programms ein gemeinsames Projekt gestartet. In einem Planspiel sah das Szenario vor, dass zwischen Alexanderplatz und chinesischer Botschaft ein Regionalzug auf eine Brücke stürzt, unter der Strom-, Gas-, Telefon-, Wasser- und Fernwärmeleitungen die Spree überqueren. Die Leute in den Krisenstäben konnten auf eine gemeinsame digitale Stadtkarte mit allen Versorgungssträngen blicken und Noteinsätze koordinieren.

Schon, dass die Krisenstäbe sich dabei kennenlernten, war ein Schritt vorwärts - offenbar ist das in anderen deutschen Großstädten nicht unbedingt üblich. Zudem überlegen jetzt die anderen Firmen, ihre Außenteams nach Vattenfalls Vorbild zusätzlich mit digitalen Funkgeräten auszustatten, um bei einem Ausfall des Telefonnetzes in Kontakt zu bleiben.

Ein weiteres Rezept gegen Krisen hat dagegen nichts mit Technik zu tun. Sicherheitsforscher nennen es "bürgerschaftliches Engagement" oder schlicht "Nachbarschaftshilfe". Sie lässt sich nicht planen oder anordnen, aber womöglich in normalen Zeiten fördern. Urbanistik-Forscher Floeting verweist auf einen Internetservice im Land Brandenburg.

Dort können Bürger im Internet alles melden, was ihnen auffällt - von der kaputten Straßenlaterne über umgestürzte Bäume bis zum Dauer-Falschparker. Mitarbeiter des Services kümmern sich darum, dass der Hinweis die zuständige Behörde erreicht und schreiben eine Antwort auf die Internetseite. "Das verbessert das Sicherheitsempfinden der Bürger und zeigt ihnen im Kleinen, dass es sich lohnt, sich zu engagieren", sagt Floeting.

© SZ vom 20.04.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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