Synästhetiker:Das dunkelblaue Leuchten am Feynman-Punkt

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Innerhalb einer Woche wird er Deutsch lernen: Eine Begegnung mit dem Autisten und Synästhetiker Daniel Tammet, der heute "Beckmann" besucht.

Alex Rühle

Eigentlich ist er ja in Hamburg, um Deutsch zu lernen, aber jetzt ist Mittagspause und deshalb ist Daniel Tammet in die Kunsthalle gegangen, zeitgenössische Malerei anschauen. Vielleicht sollte man hinzufügen, dass Tammet innerhalb einer Woche Deutsch lernen will.

Daniel Tammet bei einer Veranstaltung der Universität Reykjavík. (Foto: Foto: Haukurth, Verwendung gemäß GNU Lizenz für freie Dokumentation)

Für einen normalen Engländer dürfte sich das gelinde gesagt schwierig gestalten, aber Christiane Spies, die ihn in dieser Woche als Sprachcoach begleitet, sagt, mit normalem Lernen habe das, was Tammet so treibe, nichts zu tun, "er atmet das Deutsche ein, er saugt es auf, ich kann's nicht erklären."

Vielleicht sollte man auch hinzufügen, das Tammet nicht ins Museum geht, weil ihm die Bilder an sich Freude bereiten, sondern weil ihn deren Farben und Strukturen an seine geliebten Zahlen erinnern: Das kräftige Blau auf dem Baselitz-Gemälde im Eingangsraum erinnert ihn an die vier und die ist seine Lieblingszahl, "weil sie so scheu ist".

Synästhesie ist eine spezifische, neuronale Vernetzung im Gehirn, durch die mehrere Sinne gleichzeitig aktiviert werden. Dass er ausgesprochen stark Synästhesie hat, dass es etwas Besonderes ist, jede Zahl bis 10.000 als jeweils eigenständige farbige Form oder Bewegung wahrzunehmen, war Daniel Tammet als Kind nicht bewusst.

Er wunderte sich nur, dass in der Schule alle Zahlen auf den Rechenblättern im selben Schwarz und gleich groß gedruckt waren. "Mir kam es vor, als ob die Blätter mit Druckfehlern übersät waren. Ich begriff nicht, warum die Acht nicht größer als die Sechs oder die Neun schwarz statt blau war."

Primzahlen als beste Freunde

Tammets beste Freunde sind bis heute die Primzahlen, er kennt sie derart gut, dass er intuitiv achtstellige Primzahlen erzeugen kann, einfach weil er ahnt, das es sich jeweils um eine Primzahl handelt, "so wie ein englischer Muttersprachler intuitiv erkennt, dass ein Wort wie glubr nicht existiert."

Im Museum hält er auf die Frage, wie denn 2009 aussehe, vor Immendorffs "Welt der Arbeit" inne und sagt aus dem Stand: "2009 ist 41 mal 49, 49 ist sieben mal sieben, sehr rund, 41 ist eine Primzahl, die am Rand ein wenig klumpig und knubbelig ist, aber weniger als 37, das ist so klumpig wie Porridge."

Daniel Tammet ist selbst eine Art Primzahl, ein Solitär, einer der wenigen Menschen mit "Inselbegabung", ein sogenannter Savant. Ungefähr 100 Savants sind weltweit bekannt, Menschen, die irgendeine geniale Fähigkeit haben aber ansonsten meist Pflegefälle sind, unfähig dazu, die einfachsten Alltagsdinge zu verrichten.

Der berühmteste von ihnen ist Kim Peek, das Vorbild für "Rain Man", der mit vier Jahren acht Lexikon-Bände Wort für Wort aufsagen konnte und heute den Inhalt von 12.000 Büchern nahezu auswendig kennt, dem aber sein Vater abends den Schlafanzug anziehen muss.

Daniel Tammet ist deshalb so wertvoll für die Forschung, weil er neben seiner Zahlenbegabung, einem herausragenden Gedächtnis, ausgeprägter Synästhesie und außergewöhnlichen sprachlichen Fähigkeiten (er spricht bislang zehn Sprachen) wie kein anderer Savant über die Gabe verfügt, seinen Zustand zu reflektieren.

Er hat Asperger, diese gemäßigte Variante des Autismus, die oft mit hoher abstrakter Intelligenz einhergeht, und er war als Kind Epileptiker, aber er lebt ein selbstbestimmtes Leben, wohnt mit seinem Lebensgefährten in Avignon, leitet eine Online-Sprachschule und hat soeben sein zweites Buch veröffentlicht (" Wolkenspringer - Von einem genialen Autisten lernen", Patmos-Verlag).

Wenn man mit ihm eine Stunde durchs Museum läuft, deutet nichts auf eine Behinderung hin, am auffälligsten ist die extrem ruhige Stimme, aber die erinnert eher an einen einfühlsamen Therapeuten als an dessen potentiellen Patienten.

Phönizische Schriftzeichen im Gartenschuppen

Aufgewachsen ist er in einer armen Londoner Gegend, als eines von neun Kindern. Der Vater, ein einfacher Arbeiter, litt lange Jahre unter Schizophrenie, Tammet war in der Klasse und der Familie der Sonderling. Während seine Geschwister draußen herumtollten, schrieb er die Innenwände des Gartenschuppens mit phönizischen Schriftzeichen voll, weil ihn die Schönheit dieses Alphabets faszinierte.

Meist saß er allein in seinem Zimmer, schaute seinen Geschwistern im Garten beim Spielen zu, oder "lag stundenlang nachts wach, starrte an die Decke und stellte mir vor, wie es wohl sein mag, Freunde zu haben." So wurden die Zahlen sein Freunde. Die Vier. "Weil sie so scheu ist wie ich." Und natürlich die Elf, die schönste aller Zahlen, "glänzend, und sehr freundlich." Asperger wurde erst mit 25 diagnostiziert, also hielt man sein merkwürdiges Benehmen für Folgen seiner epileptischen Anfälle.

Seinen ersten Anfall im Alter von vier Jahren beschreibt er wie eine Art Epiphanie: "Die Zeit wurde langsamer, dehnte sich und stand dann still, gleichzeitig sickerte das Licht aus dem Raum - sehr seltsam. Aber ich hatte nicht viele Anfälle." Als ihn sein Vater 2003 anrief, um ihm zu gratulieren, weil er an jenem Tag seit zwanzig Jahren anfallsfrei war, überkam ihn eine solche dankbare Freude, dass er unbedingt etwas Gutes tun wollte.

Also lernte er in drei Monaten die ersten 22.514 Ziffern von Pi auswendig und sagte sie dann über fünf Stunden lang in einem Museum in Oxford auf - neuer Europarekord. Das Geld spendete er der nationalen Epilepsie-Vereinigung. Tammet war danach nicht so sehr geistig als vielmehr körperlich erschöpft: "Ich laufe durch diese Zahl wie durch eine Landschaft, und eine fünfstündige Wanderung ist nunmal anstrengend."

Tammet steht vor Stephan Hubers Installation "Gran Paradiso II - Mont Blanc, Civetta, Weißhorn, Rhein, Po, Rhone", drei riesig zerklüftete Gipswucherungen, naturgetreue Abbildungen der Alpenriesen.

Eine Zahl als Landschaft - darf man sich das so naturalistisch vorstellen wie dieses Gipsgebirge? "Ja", sagt Tammet, "ganz ähnlich sieht das aus, Täler, weite Ebenen, schroffe Hänge." Auf der anderen Seite des Raumes zucken drei neonblaue Adern die Wände hoch, in Hubers Werk sind das Rhein, Po und Rhone, für Tammet aber ist blau vor allem mit Neunern assoziiert.

Die berühmteste Zahlenfolge in Pi ist der "Feynman-Punkt", der die Dezimalstellen 762 bis 767 von Pi umfasst und folgendermaßen aussieht: "999999". "Das ist jedesmal ein wunderschöner Anblick für mich, ein dicker Saum von dunkelblauem Licht.

Viele schöne Neunersequenzen

Später in Pi kommen noch viele schöne Neunersequenzen, aber darüber hat vorher keiner geschrieben, vielleicht weil keiner zuvor je selber so tief hineingelaufen ist wie ich." - "So tief hineingelaufen. . . Sie klingen wie Scott oder Amundsen." - "Ja, aber Pi ist eine schönere Landschaft als der Südpol."

Tammet ist für die Wissenschaft tatsächlich ein Pionier oder Entdecker, als sein erstes Buch "Born on a Blue Day" erschien, schrieb der australische Neurobiologe und Savant-Forscher Allan Snyder, Tammet liefere vielleicht den Schlüssel zu der Frage, was Genialität neurophysiologisch bedeute.

Snyder glaubt, dass sich die Fähigkeiten von Savants nicht grundlegend von unser aller Begabungen unterscheiden, sondern nur eine extreme Variante davon darstellen - eine umstrittene These unter Psychiatern und Neurologen. Tammet aber will genau das in seinem neuen Buch beweisen.

Nun kann man Synästhesie ja leider nicht lernen, es ist wie mit dem absoluten Gehör, entweder man hat diese Begabung oder man hat sie nicht. Aber Tammet ist überzeugt, dass Kleinkinder eine Art mathematische Intuition haben, "sie können fühlen, dass große Zahlen auf gewisse Art schwerer sind als kleinere," sagt er. "Dieses Gefühl geht durch das rein rationale Lernen verloren."

Auch Sprachen lernt Tammet vor allem intuitiv und assoziativ, über verwandte grammatikalische Strukturen, über Wortgruppen, Klangähnlichkeiten, Rhythmen - und indem er sich in ganze Bücher stürzt wie ein Nichtschwimmer in den Ozean. Für ihn haben Wörter nie zufällige Klänge, ihre sprachliche Materialität hängt stets zusammen mit dem Aussehen oder der Beschaffenheit des bezeichneten Gegenstandes.

"Im Deutschen beginnen Wörter, die runde kleine Sachen bezeichnen, oft mit Kn: Knolle, Knopf, Knospe. Lange dünne Sachen beginnen dagegen oft mit Str: Strand, Strecke, Strumpf, Straße. Kinder merken so etwas anfangs, verlieren es dann aber."

Die unfreiwillige Komik seines Buches und seiner Ausführungen im Museum liegt in Tammets freundlicher Annahme, dass jeder von uns mithilfe solcher Hausmittelchen, die in jedem Sprachlabor gang und gäbe sind, lernen könnte, was er kann.

Tammet hat zehn Sprachen gelernt oder, wie seine Lehrerin es nannte, eingeatmet, darunter Gälisch, Walisisch und Esperanto, nicht zu vergessen Mänti, die Sprache, die er von Kindheit an selbst entwickelt hat, die sich auf die grammatikalischen und lexikalischen Strukturen der baltischen und skandinavischen Sprachen stützt und in der er wunderschöne Neologismen geschaffen hat: Kellokült, Tammets Wort für Verspätung, setzt sich aus den Mäntiwörtern für Uhr und Schuld zusammen. Rupuaigu, wörtlich die Zeit, die es braucht, ein Brot zu backen, bedeutet eine Stunde.

Das Isländische als Bruderzunge

Nachdem er eine Woche lang Isländisch gelernt hatte, trat er im isländischen Staatsfernsehen auf und überraschte die Moderatoren mit eigenen Neologismen wie dem Wort Brodurmal, Bruderzunge, womit er ausdrücken wollte, wie nah ihm das Isländische sei.Heute abend wird er bei Beckmann seine Deutschkenntnisse vorführen.

Und? Ist Deutsch für ihn auch eine Bruderzunge? Tammet steht vor Franz Erhard Walters "Roter Scheibe mit vier Bändern", einem weinroten Kreis aus Dreiecken. "Isländisch gleicht einem Bild, Deutsch mit seiner Logik und seinen abstrakten Worten eher einer mathematischen Gleichung, es ist deutlich, fast rechteckig, und zugleich poetisch rund, ein wenig wie das hier, Kreise, die ein Dreieck bilden."

Leider war dann das Brot gebacken, und da Tammet keine Uhrschuld haben wollte, musste er wieder lernen gehen und lief davon durch Hamburger Nieselregen. Schöner als alle Zahlen sieht für ihn übrigens nur die Stille aus, "wie Regentropfen, die an einem Fenster herablaufen, silbrig, ein endloses Tröpfeln, nah um meinen Kopf."

© SZ vom 02.03.2009/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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