Sterbehilfe:Leben bis zuletzt

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Gibt es ein Recht auf Sterben? Experten sprechen darüber, ob ein Mensch seinen Tod selbst bestimmen darf und wie andere ihn ans Ende begleiten sollen.

Susanne Schäfer

Die Menschen haben Angst. Davor, dass Ärzte sie eines Tages am Leben halten, obwohl es Zeit ist zu sterben. Davor, dass das Leben langsam endet und der Tod doch noch nicht kommt.

Wer Menschen am Ende des Lebens betreut, kann dazu beitragen, dass sie vielleicht gar nicht frühzeitig sterben wollen. (Foto: Foto: Ute Grabowsky)

Diese Furcht war zu spüren, als das Publikum sich an dem Gespräch zum Thema "Recht auf Leben - Recht auf Sterben" beteiligte. Bei der Podiumsdiskussion des SZ-Forums Wissen vergangene Woche in München sprachen Mediziner, Juristen und Theologen über die Frage, ob ein Mensch selbstbestimmt sterben darf und wie Ärzte ihn auf diesem Weg begleiten sollten.

Eine Zuhörerin erzählt von ihrer Mutter, die mit 87 Jahren gestorben ist. "Es war an der Zeit", sagt die Frau. "Aber einer der Ärzte wollte alles medizinisch Mögliche versuchen, um sie weiter am Leben zu halten." Ein Kampf sei es gewesen, bis ihre Mutter sterben durfte. Ein anderer Zuhörer sagt, dass er selbst seit fünf Jahren krank sei.

"Ich will mein Leben mit Würde zu Ende bringen." Das heißt für ihn, sich selbst zu töten. Dann, wenn er sich dafür entscheidet. Angst habe er aber davor, dass der Suizidversuch scheitert. Deshalb fordert er, die assistierte Selbsttötung nach dem Vorbild der Schweizer Regelung auch in Deutschland zu legalisieren.

Hat ein Mensch ein Recht darauf, selbstbestimmt zu sterben? Der Moderator Volker Gerhardt, Professor für Philosophie, leitet die Antwort aus der abendländischen Geistesgeschichte ab: Rein juristisch ergebe sich ein solches Recht aus dem Recht auf Leben.

Dieser Begriff ist seit dem 18. Jahrhundert gebräuchlich, als die Menschenrechte erstmals in Verfassungen aufgenommen wurden. "Der Mensch hat demnach nicht nur das Recht, sich gegen Gefahren zu wehren und so am Leben zu bleiben, sondern er hat das Recht, sein Leben selbst zu gestalten", sagt Gerhardt. Im Sinne dieser Selbstbestimmung dürfe jeder Mensch Zugriffe auf den eigenen Körper abwehren. "Juristisch ist es also eindeutig, dass jeder das Recht hat, das Ende seines Lebens selbst zu bestimmen."

Andere Diskussionsteilnehmer wehren sich dagegen, die Debatte vor allem auf die Frage auszurichten, ob ein Mensch seinen Tod selbst bestimmen darf. Susanne Breit-Keßler, Oberkirchenrätin im Kirchenkreis München, sagt: "Wir sollten uns nicht immer auf das Ende konzentrieren und als Todesboten auftreten."

Stattdessen solle man Sterbende liebevoll begleiten. Auch der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio versucht mit seiner Arbeit, die Qualen der Kranken am Lebensende so zu mildern, dass viele von ihnen gar nicht den Wunsch haben, frühzeitig zu sterben.

Im Notfall Suizid

Ludwig Minelli, Gründer der Schweizer Organisation Dignitas, hat die Frage, ob ein Mensch seinen Tod selbst bestimmen darf, für sich eindeutig mit Ja beantwortet. Und er ist überzeugt davon, dass er einem Menschen, der sich den Tod wünscht, auch beim Sterben helfen darf.

Wenn jemand ihn überzeugt hat, dass er sich wirklich nichts mehr als den Tod wünscht, dann besorgt Minelli ihm von einem Arzt das Rezept für das tödliche Mittel und bereitet alles vor, damit er sich selbst das Leben nehmen kann.

Trotzdem sagt Minelli: "Dignitas ist die größte Suizid-Vermeidungs-Organisation." Denn er spreche lange mit den Menschen, die sich an die Einrichtung wenden. Er versuche, ihnen Wege zurück ins Leben zu zeigen. Einen jungen Mann zum Beispiel, der nach einem Unfall vom Hals abwärts gelähmt war, habe er überzeugt, wieder in die Schule zu gehen und in seinem alten Leben eine neue Rolle zu finden.

"Erst als er einige Zeit später noch einmal zu uns kam und wieder sagte, dass er nicht mehr leben wolle, habe ich das eingesehen." Auch die Eltern unterstützten den Wunsch ihres Sohnes. Also half Minelli ihm zu sterben.

Aber die meisten Menschen, die sich an Dignitas wenden, wollen laut Minelli gar nicht unbedingt sterben. "Zwar schreiben uns viele Menschen mit der Bitte um einen vorbereiteten Suizid. Aber wenn wir ihnen antworten, dass ein Arzt bereit ist, das Rezept zu schreiben, melden sich siebzig Prozent nicht mehr." Minelli schließt daraus, dass die meisten Menschen nur die Wahl haben wollen. "Die wollen die Gewissheit, dass ihnen ein Notausgang offen steht."

Menschen suchen nach dem letzten Ausweg

Auch der niederländische Theologe Theo Boer hat akzeptiert, dass manche Menschen diesen Notausgang nehmen wollen. Dabei lehnt er die aktive Sterbehilfe eigentlich ab. Er sagt: "Ich bin immer ein Gegner einer gesetzlichen Regelung gewesen.

Tötung auf Verlangen und Selbsttötung sind tragische Ereignisse, und Tragik sollte man nicht gesetzlich festlegen." Trotzdem ist er Mitglied einer niederländischen "Kontrollkommission Euthanasie" und prüft in dieser Funktion Fälle, in denen Ärzte aktive Sterbehilfe geleistet haben. Wenn die Mitglieder einer Kontrollkommission Zweifel haben, dass ein Arzt die Sorgfaltskriterien eingehalten hat, dann verweigern sie ihm das Urteil "sorgfältig".

Das kommt zwar nur selten vor, bedeutet aber, dass der Arzt sich vor Gericht verantworten muss. Boer sagt: "Wenn eine Gesellschaft sich dafür entscheidet, die aktive Sterbehilfe zuzulassen, dann sollte sie wenigstens gute Kontrollmechanismen einsetzen, damit es bei Ausnahmefällen bleibt." An dieser Kontrolle wirke er mit.

In den Niederlanden ist die aktive Sterbehilfe straffrei, wenn mehrere Sorgfaltskriterien erfüllt sind. So muss das Leiden des Patienten "aussichtslos" und "unerträglich" sein. Der Kranke muss "freiwillig, nach reiflicher Überlegung und wiederholt" um Sterbehilfe gebeten haben. Und ein zweiter Arzt muss bestätigen, dass diese Kriterien erfüllt sind.

Eine solche Regelung hält Bundesjustizministerin Brigitte Zypries in Deutschland nicht für denkbar. Sie lehnt die aktive Sterbehilfe ab. "Soweit ich es beeinflussen kann, wird in Deutschland weder die Tötung auf Verlangen noch der assistierte Suizid zugelassen." Stattdessen wolle die Bundesregierung die palliativmedizinische Versorgung verbessern, indem sie etwa eine ambulante Versorgung für Menschen ermöglicht, die zuhause sterben.

Brigitte Zypries sagt, sie befürchte, dass eine Akzeptanz der aktiven Sterbehilfe Druck auf Menschen ausüben könnte, die alt, krank oder behindert sind. "In unserer Gesellschaft leben immer mehr alte Menschen. Sie dürfen nicht das Gefühl bekommen, dass wir sie loswerden wollen."

Die Regionalbischöfin Breit-Keßler teilt diese Bedenken: "Rund vierzig Prozent der Kosten für medizinische Versorgung verursacht der Mensch in seinem letzten Lebensjahr." Diese Zahl dürfe nicht zum Argument werden. "Es darf keine Einstellung entstehen in dem Sinn: Bleib gesund und fit - und wenn du das nicht schaffst, gib den Löffel ab."

Immer mehr Ausnahmen

Diese Befürchtungen lassen sich in die so genannte Slippery-Slope-Argumentation einordnen. Ihre Vertreter nehmen an, dass bei moralischen Fragen schon kleine Ausnahmen von der Regel eine Signalwirkung haben können. Demnach bleibt es nicht bei den vereinbarten Ausnahmen, sondern ein Prozess kommt in Gang: Die Menschen gewöhnen sich an Handlungen, die zuvor umstritten waren. Nach und nach weitet sich so der Bereich aus, der ursprünglich tabu war.

Breit-Keßler beobachtet in den Niederlanden eine solche Ausweitung: Erst sei die Tötung auf Verlangen für alte und schwerkranke Menschen zulässig gewesen, die bereits im Sterbeprozess sind. "Jetzt wird die Gruppe der Personen immer größer, die man töten können möchte: Krebskranke, die nicht unbedingt an ihrer Krankheit sterben, Neugeborene mit schweren Behinderungen. Seit Kurzem empfiehlt eine Kommission in den Niederlanden, soziales Leiden als Grund für die Tötung auf Verlangen anzuerkennen - einsam zu sein genügt."

Die niederländische "Kommission Dijkhuis" schlug vor, die Kriterien für straffreie Sterbehilfe nicht nur auf körperliches oder psychisches Leiden zu begrenzen, sondern auch auf "soziales Leiden"" auszudehnen. Aktive Sterbehilfe sollte demnach auch dann erlaubt sein, wenn ein Mensch ein Gefühl von Sinnlosigkeit hat oder keine Lebensperspektive mehr sieht. Es gebe keinen grundlegenden Unterschied zwischen physischen und emotionalen Qualen, stellte die Kommission fest. In den Niederlanden entzündete sich daraufhin eine heftige Debatte - mit dem Ergebnis, dass so genannte soziale Leiden vorerst wohl nicht als Grund für die aktive Sterbehilfe gelten werden.

Bei der Podiumsdiskussion des SZ-Forums Wissen tauchen solche extremen Forderungen nicht auf. Die Teilnehmer lenken das Gespräch immer wieder hin zu der Frage, wie man Menschen mit palliativmedizinischer Versorgung beim Sterben begleiten kann, und weg von der Diskussion über ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Und doch steht am Ende der Veranstaltung eine Dame im Publikum auf, geht zum Mikrofon und möchte von Ludwig Minelli, dem Vertreter von Dignitas, nur eins wissen: "Wo bekomme ich das Rezept?"

© SZ vom 25. April 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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