Sigmund Jähn:Der Sachse, der den Westen überholte

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"Wenn man vor 30 Jahren mal in den Weltraum geflogen ist, muss man nicht jeden Tag einen Höhenflug daraus machen." Ein Besuch beim ersten Deutschen im All.

H. Filser

Es waren wenige Tage, die den DDR-Bürger Sigmund Jähn berühmt gemacht haben. 189 Stunden schwebte er in der Umlaufbahn der Erde. Im Vergleich zu den 30 Jahren, die seit dem 26. August 1978 vergangen sind, als der Vogtländer vom Weltraumbahnhof Baikonur abhob, mögen ihm diese knapp acht Tage wie ein unwirklicher Moment vorkommen. Als erster Deutscher flog er ins All, fünf Jahre vor Ulf Merbold, der im Westen gefeiert wurde.

Er wurde zum Vorzeigebürger der DDR: Sigmund Jähn. (Foto: Foto: dpa)

In Jähns Heimatort Morgenröthe-Rautenkranz im Vogtland haben sie am Ortsschild stolz den Zusatz "Geburtsort des ersten Fliegerkosmonauten der DDR" angebracht. Nach der Wende hat der Bürgermeister die Aufschrift entschlackt: "Geburtsort des ersten deutschen Kosmonauten" heißt es nun.

Sigmund Jähn lächelt, als er das Ortsschild passiert, das Gesicht des Mannes ist erstaunlich wenig gealtert seit den Tagen im All. "Natürlich freut man sich darüber, auch heute noch", sagt er, am Steuer seines alten schwarzen Peugeot 405 sitzend, den er schon zu DDR-Zeiten fuhr. Dieses "man" wird er noch öfter verwenden, wenn er über sich spricht. Als ob es neben ihm noch einen Sigmund Jähn gäbe, zu dem er Abstand braucht.

Winken mit Honecker

Eigentlich wohnt der 71-Jährige in Strausberg bei Berlin, doch Rautenkranz ist sein Rückzugsort. Hier hat er eine Datscha im Wald, um die er 160 Bäume gepflanzt hat. Zum Gespräch bittet er in die Pension "Frischhütte" unten im Tal der Mulde, wo auch Kosmonauten und Astronauten aus aller Welt übernachten, wenn sie zu Veranstaltungen ins Raumfahrtmuseum kommen. Sigmund Jähn lotst sie alle hierher, Russen und Amerikaner genauso wie Tschechen und Deutsche.

Einst war Sigmund Jähn Held der DDR, bekannt wie Erich Honecker. Auch 19 Jahre nach dem Fall der Mauer wird er noch oft angesprochen. Die Begeisterung für Jähn ist echt. Geduldig schreibt er Autogramme, beantwortet Fragen, lässt sich fotografieren. Doch feiern will er sein Jubiläum nicht. "Es wird keinen Jubiläumstrubel geben. Wenn man vor 30 Jahren mal in den Weltraum geflogen ist, mus man nicht jeden Tag einen Höhenflug für sich daraus machen."

Wie stark ist die Erinnerung nach 30 Jahren? "Ich bin ein rationaler Mensch. Was nicht mehr aktuell ist, kann man nicht hervorzaubern", sagt er. An diesem Nachmittag in der "Frischhütte" erzählt Sigmund Jähn mehr Privates als sonst.

Zum Beispiel von den persönlichen Sachen, die er mit ins All nahm: das Bild der großen, damals schwangeren Tochter Marina, den Brief der kleineren. "Von Grit Jähn, Erde", stand darauf. "Den Brief habe ich noch", sagt Jähn. Auch eine verkohlte Flugkarte ist mit im All. "Einmal musste ich mich per Schleudersitz aus einer MiG-17 katapultieren, die Maschine zerschellte. Als ich zur Unfallstelle fuhr, fand ich zwischen den Trümmern das Stück Karte." Es ist sein Talisman auf dem Flug zu den Sternen. "Ach, das ist lange her", sagt Jähn.

Dann kommen die Erinnerungen: "Allein der Sonnenaufgang alle 90 Minuten: Man fliegt ihm mit acht Kilometern pro Sekunde entgegen. Das ist ein tolles Farbspiel. Eben noch hast du in der Nacht die grünlich wallenden Polarlichtfelder gesehen, wie aus einer Geisterwelt. Dann nähert sich die Sonne schon wieder, und es sieht aus, als würde sie eine Zacke in diese Gebilde hineinfressen und sie dann verschlingen." Dann stockt er kurz und sagt: "So, nun ist aber genug."

Neben seiner wissenschaftlichen Aufgabe, der Fernerkundung der Erde mit einer Multispektralkamera, hatte Jähn ein Paket mit DDR-Devotionalien - Postkarten, Tücher, Wimpel - und das Sandmännchen dabei. Das Staatsfernsehen der DDR hatte diesem eigens einen Raumanzug verpasst. "Die Sandmann-Sendung aus dem All war als Aufklärung vorgesehen. Alles war festgelegt." Doch dann lief es gegen das Protokoll.

Der Kommandeur der Raumstation, der Weißrusse Wladimir Kowaljonok, wollte seine Puppe Mascha mit Jähns Sandmann verheiraten - Jähn machte mit. "Die Leute vom Staatsfernsehen waren gar nicht begeistert", sagt der Raumfahrer. "Die wollten keinen verheirateten Sandmann, das hätte alles durcheinandergebracht." Die Szene wurde herausgeschnitten. Sandmännchen blieb solo.

Als die Kapsel mit Jähn am 3. September 1978 hart in der kasachischen Steppe aufschlug, warteten schon Journalisten im Hubschrauber. Drei Wochen später wird Sigmund Jähn endgültig klar, dass er, der gelernte Buchdrucker und in Moskau geschulte Kampfpilot, nun eine neue Rolle innehatte. "Die politischen Oberen wollten den Knalleffekt", sagt er.

Neid im Westen

Als sozialistischer Held kehrte er am 21. September 1978 nach Deutschland zurück, drei Stunden dauerte die triumphale Fahrt mit Erich Honecker und Raumfahrerkollege Waleri Bykowski im offenen Wagen durch Ostberlin. An jedem zweiten Baum hing ein Plakat von Jähn. "Ein Jähn" nannten die Menschen den Abstand dazwischen. Fortan legte er Kränze nieder, pflanzte Bäume, nahm Glückwünsche der Arbeiter entgegen. Die Titel "Held der DDR" und "Fliegerkosmonaut der DDR" wurden Jähn verliehen.

Er wurde zur Vorzeigefigur des Systems. "Ich wurde dazu gemacht. Ich habe nicht gesagt, dass ich gern Teil des Systems werden will, ich wollte in den Weltraum fliegen", sagt Jähn heute. "Manchmal musste ich Dinge verkünden, die man mir vorgelegt hatte. Einmal habe ich mich hinterher geschämt. Da habe ich schnell getrennt: Hier ist der Kosmonaut, die Figur, die öffentlich wirken soll. Dort ist die Person, die so bleiben soll, wie sie war. Ich wollte im Privaten meine Bäume genauso pflanzen, meine Möhren anbauen wie vorher." Es war eine Gratwanderung. Jähn, und das ist eine erstaunliche Leistung, hat seine vogtländisch-bodenständige Note eingewoben, mit Kaninchenzüchtern geredet wie mit Funktionären.

In der Geschichte der beiden deutschen Staaten war der 26. August 1978 der Tag, an dem die DDR am meisten über die Bundesrepublik triumphierte. Dem Westen blieb nur Neid. So schrieb die Süddeutsche Zeitung am 29. August 1978 in einem Kommentar: "Zum erstenmal wird im Weltraum deutsch gesprochen, wenn auch mit sächsischem Akzent, was die Sache gleich wieder etwas ins Komische zieht, so daß wir sie nicht ganz so ernst nehmen müssen. Der erste richtige Deutsche soll schließlich erst 1980 mit einem amerikanischen Spacelab-Raumschiff in den Weltraum fliegen."

Jähn galt damals nicht als richtiger Deutscher. Die Welt bezeichnete ihn abfällig als "Mitesser in der Russen-Rakete". Die Zeit nannte ihn "Prachtkerl aus Rautenkranz" und lieferte Ostblock-Witze mit: "Warum muß immer ein Russe dabeisein? Weil sonst die Weltraumkapsel im Westen landen würde". Erst später fand man eine Möglichkeit, den westdeutschen Raumfahrtpionier Ulf Merbold mit Jähn in einem Atemzug zu nennen: Beide Männer waren im "grünen Herzen" Deutschlands geboren, dem Vogtland zwischen Nürnberg und Leipzig.

Nach der Wende ist Jähn den Job als NVA-General zwar los. "Aber der liebe Gott hat es so eingerichtet, dass Deutsche mit Russen den Euromir-Flug vorbereiteten und niemand da war, der die Russen kannte und russisch sprach", sagt er. Die Europäische Raumfahrtagentur und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt schickten ihn auf Hinweis von Ulf Merbold als Ausbilder nach Moskau. Bei den Astronauten aus dem Westen hinterließ er einen guten Eindruck. Alle betonen sein pädagogisches Geschick, die Geduld und Bescheidenheit.

Erst "Good Bye, Lenin!" macht ihn im Westen bekannt

In der westdeutschen Öffentlichkeit war Sigmund Jähn zu diesem Zeitpunkt kaum bekannt. Doch 2003 brachte ihn der Kinofilm "Good Bye, Lenin!" in den Westen: Er beginnt mit der Übertragung von Jähns Raumflug und endet mit einer rührend-originellen Rede. Jähn öffnet die Mauer, damit auch der Westen an der Größe des Sozialismus teilhaben können. "Regisseur Wolfgang Becker hat mich gebeten, die Rolle zu übernehmen", sagt Jähn. Doch er hat abgelehnt. Sigmund Jähn hat sich allein in einem Berliner Kino angesehen, wie am Ende des Films sein Doppelgänger Honecker als Staatsratsvorsitzenden ablöst.

Wenn Sigmund Jähn nach Rautenkranz kommt, trifft er sich mit dem Männergesangsverein. Da wird geredet, getrunken, gesungen, kürzlich haben alle Sigmund und Erika Jähns Goldene Hochzeit gefeiert. Bisweilen singen sie in Rautenkranz das Lied über den Raumfahrer Jähn, das einst der Lehrer des Orts gedichtet hat: "Und 78 im August, da blieb kein Mensch zu Haus. Der Sigmund flog mit seinen Freunden ins Weltenall hinaus." Vielleicht feiern sie heute abend doch ein wenig, und Sigmund Jähn ist das, was er sein mag: ein Held der bescheidenen Leute.

© SZ vom 26.8.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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