Serie: 200 Jahre Darwin (7):Einer für alle

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Charles Darwin vermutete, dass alle organischen Wesen von einer einzigen Urform abstammen könnten. Molekularbiologen rekonstruieren dessen Lebensgeschichte.

Birgit Herden

"Alle organischen Wesen, die je auf dieser Erde gelebt haben, könnten von einer einzigen Urform abstammen" - das vermutete Charles Darwin. Inzwischen hat eine Fülle molekularer Details bewiesen, dass Tiere, Pflanzen und Einzeller von einem gemeinsamen Urahn abstammen.

Archaeen (l.u.), Bakterien (m.) oder Eukaryonten - zu denen Pflanzen, Menschen und Tiere (zum Beispiel die einzelligen Sonnentierchen, r.o.) gehören - stammen vermutlich von Luca ab. (Foto: Foto: PloS/oh)

Darwin hatte noch keine Möglichkeit, in die Anfangszeit des Lebendigen zurückzublicken. Doch heute haben Biologen eine immer genauere Vorstellung davon, wie dieser Vorfahre ausgesehen haben könnte und wann er gelebt haben muss.

Die Geschichte des irdischen Lebens beginnt vor etwa vier Milliarden Jahren. Die Erde ist gerade 500 Millionen Jahre alt. Unter der damals noch schwachen Sonne war unser Planet vermutlich zu einer Eiswüste erstarrt, die allerdings durch Einschläge riesiger Meteoriten immer wieder in ein feuriges Inferno verwandelt wurde.

Man nennt dieses erste Äon der Erdgeschichte in Anlehnung an die Bezeichnung für die griechische Unterwelt das Hadaikum. Die ersten Gesteinsfunde, die Spuren früher Einzeller enthalten, datiert man auf ein Alter von 3,8 Milliarden Jahren - jedoch ist diese Interpretation unsicher. Eindeutige und vielfältige Ablagerungen sind 3,5 Milliarden Jahren alt. Zu dieser Zeit gab es allerdings schon verschiedene Arten spezialisierter Einzeller - der gemeinsame Vorfahr muss vor dieser Zeit gelebt haben.

Auch ohne direkte Beweise kann man Einiges über ihn sagen. Die Vielfalt des irdischen Lebens mag überwältigen, doch die biochemischen Details sind überraschend einheitlich. Alle Einzeller, Tiere und Pflanzen verwenden im Erbgut das Molekül DNS oder die verwandte RNS als Informationsspeicher.

Die fadenförmigen Moleküle sind aus den immer gleichen Bausteinen aufgebaut. Als Energiespeicher dient weltweit ein überschaubarer Satz von Zuckern. Etliche der grundlegenden Enzyme, die diese Maschinerie in Gang halten, findet man in nur leicht variierter Form immer wieder, im urtümlichen Einzeller ebenso wie im hoch aufragenden Baumriesen, in Schleimpilzen oder auch im Menschen.

Will man die Verwandtschaft der Lebewesen untereinander bestimmen, so mussten sich die Taxonomen bis vor wenigen Jahrzehnten auf den bloßen Augenschein verlassen. Bei vielzelligen Pflanzen und Tieren funktionierte das recht gut. Mäuse sind Kaninchen ähnlicher als Eidechsen, alle drei rücken aber gegenüber Würmern, Spinnen oder Pflanzen in traute Verwandtschaft.

Auf diese Weise konnte man einen Stammbaum konstruieren, der die evolutionäre Entwicklung wiedergibt. Verfolgt man diesen Stammbaum rückwärts, wird klar, dass alle Tiere, Pflanzen und Pilze von Einzellern abstammen.

Hier wird die Unterscheidung allerdings schwieriger, denn selbst unter dem Mikroskop sind sich die Mikroben ähnlich. Eine Systematik gelingt erst, seit man Gensequenzen miteinander vergleichen kann. Je länger sich zwei verschiedenen Arten unabhängig von einander entwickelten, umso größer sind die Unterschiede im Erbgut.

Alle irdischen Lebewesen gehören demnach zu einer von drei Domänen: den Bakterien, den ebenfalls einzelligen Archaeen oder den Eukaryonten mit Tieren, Pflanzen und Pilzen. Bevor sich diese drei großen Gruppen vor etwa 3,5 Milliarden Jahren voneinander getrennt haben, gab es einen gemeinsamen Vorfahren, von dem sie ihre Gemeinsamkeiten geerbt haben.

Sein Name ist nach allgemeiner Übereinkunft Luca, das steht für "Last universal common ancestor" - der letzte gemeinsame Vorfahre aller Lebewesen.

Heutige Lebewesen tragen mindestens 60 Luca-Gene

Luca war wahrscheinlich ein recht simpel aufgebauter Einzeller. Inzwischen kennt man etwa 60 Gene, die er nahezu unverändert an die heutigen Lebewesen vererbt hat. Sie sind fast alle an der Aufgabe beteiligt, aus genetischer Information Eiweißmoleküle zu formen. Mit diesen Genen allein wäre Luca allerdings nicht weit gekommen.

Mindestens 600 Gene muss der Urahn besessen haben, schätzt der amerikanische Forscher Eugene Koonin, damit er lebensfähig war. "Das ultimative Ziel ist es, einen plausiblen Satz Gene zu rekonstruieren", so der Evolutionsgenetiker. Im Prinzip könnte es dann sogar möglich sein, Luca in einem Laborgefäß wieder zum Leben zu erwecken.

Lange Zeit nahm man an, dass der Urahn bei Temperaturen von mehr als 80 Grad Celsius gelebt hat. Denn unter den heutigen Einzellern findet man die urtümlichen Arten häufig in der Nähe heißer Quellen oder bei den heißen Schloten auf dem Meeresgrund.

Ende vergangenen Jahres jedoch haben kanadische und französischer Forscher einen genaueren Blick auf Lucas Werdegang geworfen: Bakterien und Archaeen passen sich bis heute an hohe Temperaturen an, indem sie Eiweiße mit vielen hitzestabilen Aminosäuren bilden. Bei Organismen, die in kühlem Wasser leben, sind die Proteine dagegen anders aufgebaut.

Die Forscher verglichen die universellen Eiweißstoffe von 30 verschiedenen Lebewesen und rekonstruierten dann mittels hoch entwickelter Algorithmen die Zusammensetzung von Lucas Proteinen. Demnach besaß der Urahn eine Mixtur von Aminosäuren, die ihn am besten bei kühlen Temperaturen um die 20 Grad Celsius gedeihen ließ.

Dasselbe ergab eine Rekonstruktion von Lucas Ribosomen. Wahrscheinlich entwickelten erst manche seiner Nachkommen vor etwa 3,8 Milliarden Jahren eine Vorliebe für hohe Temperaturen. Es ist denkbar, dass Luca bereits im frühen, kalten Hadaikum lebte, seine Nachkommen aber von einem der letzten großen Meteoriteneinschläge heimgesucht wurden. Von diesen überlebten dann nur diejenigen, die der großen Hitze standhielten.

Trotz aller detaillieren Rekonstruktionen gibt Luca nach wie vor fundamentale Rätsel auf. So gibt es in den heutigen Lebewesen neben den universellen 60 eine Vielzahl weiterer Gene. Manche von ihnen sind so essentiell, dass sie ebenfalls aus der Zeit von Luca stammen müssen.

Ein Einzeller, der all diese Erbanlagen besessen hätte, wäre aber eine Art Universalgenie gewesen. Eine solche Komplexität ist für ein derart ursprüngliches Lebewesen unwahrscheinlich. Einen Ausweg aus diesem Dilemma schlägt der amerikanische Mikrobiologe Carl Woese vor. Seiner Ansicht nach handelte es sich bei Luca nicht um eine einzelne Art, sondern um eine Urgemeinschaft primitiver Einzeller. Diese hätten noch nicht zwischen fremd und selbst unterschieden, so wie es heutige Einzeller tun.

Freie Liebe unter Urzellern

Gleichsam wie in freier Liebe könnten die Urzeller ihre Gene untereinander ausgetauscht haben. Aus dieser Urgemeinschaft könnten sich dann Gruppen herauskristallisiert haben, die getrennter Wege gingen. Erst von diesem Zeitpunkt an hätte es dann Vererbung und Selektion gegeben, weshalb Woese auch von der Darwinschen Schwelle spricht. Andere Wissenschaftler bezweifeln allerdings, dass eine solche genetische Gemeinschaft stabil und entwicklungsfähig sein könnte.

Ob nun Urgemeinde oder Ahn - jenseits von Luca verliert sich die Entstehung der Arten im Dämmerlicht der frühen Sonne. Wie aus der unbelebten Materie die ersten Lebewesen entstehen konnten ist lediglich Stoff für lebhafte Spekulationen. Möglich ist sogar, so glauben manche Evolutionsbiologen, dass die allerersten Organismen gar nicht auf der Erde lebten, sondern dass Lucas Vorfahren von benachbarten Planeten eingestreut wurden.

© SZ vom 21.02.2009/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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