Reportage:Wissen für die Welt

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Noch immer bietet die Tagung in Lindau klassische Vorlesungen, aber die Laureaten werden politischer. Bei jeder Gelegenheit fordern sie sich selbst und den akademischen Nachwuchs zu mehr Engagement auf. Es gibt viel zu tun für die Gesundheit.

Von Johanna Pfund

SZ-Grafik (Foto: N/A)

Es ist kurz nach sieben Uhr morgens. Normalerweise keine Zeit für Inspiration und keine Zeit für Vorträge und den festen Entschluss, endlich etwas dazu beizutragen, dass es den benachteiligten Menschen auf der Welt wenigstens ein bisschen besser geht. Aber die betagte Afrikanerin tanzt hier fröhlich im teppichweichen Konferenzraum eines gediegenen Hotels in Lindau. Und spätestens das ist der Moment, in dem man ahnt, worum es in Lindau bei der traditionsreichen Nobelpreisträgertagung zwischen all den Fachvorträgen über chemische Abläufe in Zellen oder das Gebaren von Protonen oder Fruchtfliegen letztlich geht: Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen.

Die Afrikanerin ist leider nur virtuell anwesend, auf dem Bildschirm. Aber sie hat trotzdem Ausstrahlung: Wie der von Jesus geheilte Blinde steht sie auf, beginnt zu tanzen, wirft ihren Stock weg. Gefilmt hat sie Andrew Bastawrous von der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Gemeinsam mit Aaron Ciechanover, dem israelischen Chemie-Nobelpreisträger 2004, soll Bastawrous einer Schar auserwählter und eher ehrfürchtiger Nachwuchswissenschaftler aus aller Welt an diesem Morgen erzählen, was "Excellence in Science for Society" bedeutet.

Der Eingriff kostet nur zehn Dollar. Aber für viele Menschen ist er unerreichbar

Es wird alles andere als eine langweilige Werbung für mehr Ehrgeiz. Bastawrous schildert, wie er als junger Mediziner Frau und Kind und Gerätschaften in eine kleine Dorfklinik in Kenia verfrachtete, um dort Menschen mit Augenleiden zu helfen. Viele könnte man mit moderner Medizintechnik heilen - wäre sie nur verfügbar. Nicht einmal Brillen gibt es in manchen Regionen. "Wir haben Dinge, die seit Jahrhunderten bekannt sind, zu denen aber ein Drittel der Menschheit keinen Zugang hat", sagt Bastawrous. Selten gibt es Zugang zu Ärzten oder sauberem Wasser. Dafür zu Mobiltelefonen. Das hat sich der junge Wissenschaftler zunutze gemacht und die Familien via Handy quasi selbst die Sehfähigkeit ihrer Kinder screenen lassen. Und so konnten innerhalb kurzer Zeit 21 000 Kinder untersucht werden.

Auch der alten Frau konnte geholfen werden. Zuvor hatte sie Angst gehabt, erzählt der Referent, ihren Enkel zu vergiften, weil sie für ihn kochte, aber nicht mehr sehen konnte, was. Eine einfache Behandlung mit modernem Gerät, Kostenpunkt zehn Dollar, verhalf ihr wieder zum Augenlicht. Ein Grund zum Tanzen.

Ciechanover ist so beeindruckt wie der Rest der Zuhörerschaft. Grund für eine Mahnung seinerseits, die man bei einer so traditionsreichen wie elitären Tagung von einem Wissenschaftler nicht erwarten würde: "Denkt immer daran, der Nobelpreis ist nicht das Höchste - das sollten wir keine Minute lang vergessen."

Das ist schwierig. Viele junge Wissenschaftler sind gekommen, um ihr Vorbild zu sprechen und womöglich gleich ein Selfie mit ihm zu machen. Patrick Timm von der noch recht jungen Medizinischen Hochschule Brandenburg hat trotz seiner erst sieben Semester das Ticket nach Lindau gelöst: "Ich freue mich darauf, die Preisträger so nahe zu erleben", sagt Timm.

Das geht dieses Jahr auch leichter, haben die Lindauer doch versucht, das übliche Programm aus Vorlesung und anschließenden Fragen etwas aufzulockern. Zum Beispiel mit Agora Talks - sprich lockeren Stehtischrunden im Foyer der frisch renovierten Inselhalle, bei denen die Laureaten wie im alten Griechenland auf einem öffentlichen Platz mit Zuhören diskutieren. Ein junger Mann nutzt die Gunst der Stunde und nähert sich Stefan Walter Hell, dem Chemie-Preisträger des Jahres 2014, der sich unter die Zuhörer gemischt hat. "Wir haben an einem Paper gemeinsam geschrieben", sagt der junge Wissenschaftler. Ein kurzer, freundlicher Austausch, weiter geht es in der Menge. Hell ist zum vierten Mal in Lindau, wie er erzählt. Vor allem, um junge Leute zu treffen, einen Vortrag hält er nicht. "Ich will Zeit haben, mit den Leuten zu reden. Das Wichtigste, was man mitgeben kann, ist, ein Nobelpreisträger ist ein Mensch wie jeder andere."

Was aber in diesem Jahr spürbar ist - viele der Laureaten haben eine politische Mission. Es scheint, als hätte Donald Trump durch seinen gnadenlosen Umgang mit Fakten und Behauptungen die Welt der Labors aufgerüttelt. "Kritisches Denken und Menschlichkeit müssen die Basis unseres Handelns bilden", betont Carl-Henrik Heldin bei der Eröffnung der Tagung am Sonntag. Elizabeth Blackburn führt den Gedanken in ihrer Rede weiter: Was, wenn man einfach das Pariser Klimaabkommen etwas umschreiben würde, und sich die Unterzeichner einer "sustainable, longterm, basic research" - einer nachhaltigen, langfristigen Grundlagenforschung - verpflichten würden? Gründe dafür gebe es genügend, wie Blackburn anführt: Klima, Wirtschaft, Ungleichheit, Umweltverschmutzung, Krieg, Diktaturen. "Wir sollten unser wissenschaftliches Können nutzen, um politisch aktiver zu sein", fordert die Medizin-Preisträgerin des Jahres 2009.

Auch Steven Chu kratzt die Kurve zur Politik, ganz am Ende seines Vortrags über neue Methoden in bildgebenden Verfahren, die es erlauben, Tumore wesentlich besser einzugrenzen. Denn in den letzten fünf Minuten des Referats bricht sich der Interimspolitiker Bahn. Chu, von 2009 bis 2013 Energieminister der USA, kommt unvermittelt auf den Klimawandel zu sprechen. In wenigen Jahren werde es in manchen Regionen der Erde nichts mehr zu essen geben. Das sei das große Problem. Vergessen sind die bildgebenden Verfahren.

Auch unter den jungen Wissenschaftlern sind einige, die über die Labortüre hinausblicken. Dahin zum Beispiel, wo ein Spaziergang Luxus ist. Nataly Nasser Al Deen, Doktorandin an der American University of Beirut, die an Brustkrebs forscht, hat eine Gesundheitsinitiative für Frauen gegründet. Pink Steps wirbt für mehr Bewegung, bietet Kurse an. "Aber das ist Luxus für viele", räumt Nataly Nasser Al Deen bei einer kleinen Gesprächsrunde am Rande der Tagung ein. Viele der Frauen, die von ihrer Initiative gehört hatten, wollten nur wissen, ob es Geld für die notwendige Krebsoperation gebe, denn Spazierengehen und Sport seien etwas für Wohlhabende, nichts für den Großteil der Bevölkerung und nichts für die zwei Millionen Flüchtlinge, die im Libanon nur vom Allernötigsten leben.

Auch Svenja Kohler, die an der Universität Lübeck studiert, hat eine Initiative mit dem Ziel gegründet, Kindern in Senegal zu helfen. Ihr Fazit: "Das Entscheidende ist die Kommunikation. Was wir für richtig halten, muss nicht unbedingt das Richtige in den Augen der Betroffenen sein." Die kulturellen Unterschiede müssten respektiert werden. Daher versuche die Initiative, Einheimische zu finden, die helfen, die Themen wie Ernährung und Sexualhygiene richtig ansprechen können.

Leichter ist es wohl, direkt im eigenen Land zu helfen, wie es die junge Forscherin Jeerapond Leelawattanachai in Thailand macht. Sie arbeitet an kostengünstigen Tests für latente Tuberkulose und versucht, die Industrie dafür zu gewinnen. Aber all das Engagement stößt an viele Grenzen. Peter Agre, Chemie-Preisträger 2003, hat sich in den vergangenen Jahren der Malariaforschung verschrieben. Mehrere Monate im Jahr verbrachte er in Afrika, das sei der beste Teil seines Jobs gewesen, sagt Agre. Wie der Mediziner Bastawrous sieht er das Problem im fehlenden Zugang zu den Errungenschaften der Medizin: "Wir müssen die Medizin und die Geräte, die wir haben, auch zu den Leuten bringen. Es ist sinnlos, wenn die Hilfsgüter in Lagerhäusern verrotten." Eine gute Infrastruktur und effiziente Helfer am Ort seien notwendig, betont Agre. Der Schritt von der wissenschaftlichen Betrachtung zum politischen Appell fällt ihm leicht: "Wir schaffen es, Waffen überall hin zu liefern. Dann müssen wir es auch schaffen, Medizin zu den Menschen zu bringen."

Aber kann die Hilfe nur von außen kommen? Peter Agre denkt nach. Beim Frühstück in Lindau habe er um die 30 Afrikaner getroffen, erzählt er. Drei kommen zum Beispiel aus Uganda, einige aus Nigeria. Der Großteil davon studiert in Deutschland. "Gut wäre es, wenn diese jungen Leute nach der Ausbildung zurück in ihr Heimatland gehen würden", sagt Agre. Leicht sei dies angesichts der vorherrschenden Korruption aber nicht.

Nur wer seine Forschung der Großmutter erklären kann, der hat sie auch verstanden

Auch der israelische Wissenschaftler Ciechanover hat eine politische Agenda in Lindau. Der Biochemiker versucht bei jeder sich bietenden Gelegenheit - bei Reden, Pressegesprächen, beim Frühstück -, die junge Zuhörerschaft aufzurütteln. "Wir müssen unsere Stimme erheben. Wir können keine Welt tolerieren, in denen es Menschen gibt, die von nur zwei Dollar am Tag leben müssen." Daher Lektion eins: die wissenschaftlichen Erkenntnisse so erklären, dass es auch die eigene Großmutter verstehen würde, nur "dann kann man davon ausgehen, dass man es auch selbst verstanden hat". Lektion Nummer zwei: der Menschheit die Ängste nehmen. Die Furcht vor der Gentechnik hält Ciechanover für unberechtigt - nutze man die genveränderten Organismen nicht, werden manche Länder hungern, prognostiziert er. Und mahnt dazu, weit über die Tagung hinauszublicken. "Lindau in allen Ehren, aber das ist nicht alles. Die Welt ist viel, viel mehr."

© SZ vom 29.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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