Realitäts-Entwürfe:Was wäre wenn ...

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Wir stellen die Realität meist nicht in Frage. Doch könnte auch alles ganz anders sein. Szenarien, wie die Welt zwar nicht ist, aber doch sein könnte.

Also, was wäre, wenn ...

Was wäre, wenn wir so gut riechen könnten wie Hunde? (Foto: Foto: dpa)

... wir so gut riechen könnten wie Hunde von Hanns Hatt

Hunde sind Nasentiere. Sie schnuppern und wittern von frühester Jugend an. Die Hundenase gehört mit einigen hundert Millionen Riechzellen auf einer riesigen Schleimhautfläche zu den besten im Tierreich. Der Mensch hat gerade einmal zehn Prozent der Hunderiechzellen und ist eher ein Nasenzwerg (Mikrosmatiker).

Unser Umgang miteinander würde sich drastisch ändern, besäßen wir ebenfalls eine Hundespürnase. Wir würden uns gegenseitig intensiv beschnüffeln (und nicht nur Küsschen links und rechts geben) und daraus interessante Neuigkeiten erfahren. Allerdings müssten wir dazu unsere Nase in die feuchten Achseln des Mitmenschen stecken - keine ganz angenehme Vorstellung. Man würde sofort riechen, ist der andere stärker oder hat er Angst, ist er krank oder geschlechtsreif und bei Frauen, ob sie gerade fortpflanzungsbereit sind.

Dabei bräuchte man nicht einmal den Menschen selbst, sondern nur einen Tropfen seines Urins, aus dem wir all diese Informationen erschnuppern könnten. In Bars und Diskotheken könnten wir auf manchen Smalltalk verzichten, denn die Nase hätte eine Sympathieentscheidung schnell getroffen. Wäre es nicht spannend, einmal mit einer Hundenase durch die Welt zu gehen und jeden, der ein Schinkenbrot in seiner Aktentasche hat, sofort zu entlarven?

Oder eine junge Dame, die man im Gedränge des Weihnachtseinkaufs aus den Augen verloren hat, wieder aufzuspüren? Allerdings müssten wir uns dazu auf allen vieren dicht am Boden bewegen. Jäger hätten einen besonderen Vorteil, denn kein Reh oder Wildschwein wäre mehr vor ihnen sicher, und die Jagdausbeute würde sich drastisch erhöhen, ebenso bei Pilz und Trüffelsammlern. Vermutlich gingen wir auch sparsamer mit Parfüms um. Unser Körpergeruch wäre viel wichtiger, denn unsere Mitmenschen würden alle chemischen Botschaften, die wir unbewusst aussenden, verstehen. Ob es allerdings Hunde auch so gern hätten, wenn wir an ihnen schnuppern, ist zu bezweifeln.

Hanns Hatt, Autor des Buchs "Das Maiglöckchen Phänomen" (Piper), erforscht als Zellphysiologe an der Ruhr Universität Bochum den Riechsinn

Lesen Sie auf Seite 2 was wäre, wenn die Pubertät etwas anders aussehen würde.

... sich Jugendliche während der Pubertät verpuppen würden? von Maja Nielsen und Jesper Juul

Was wäre, wenn sich Jugendliche während der Pubertät verpuppen würden? (Foto: Illustration: Jörn Kaspuhl)

Szenario 1: Zu Beginn der Pubertät eines Insekts wird es still. Das Insekt hüllt sich in eine feste Haut und entwickelt sich im Verborgenen. Irgendwann platzt die Hülle, und heraus kommt ein wunderschöner Schmetterling. Was wäre, wenn sich Jugendliche während der Pubertät ebenso verpuppten? Erwartungsfrohe Ruhe bei den glücklichen Eltern. Immer mal wieder schauen Mama oder Papa im wohlgeordneten Kinderzimmer vorbei, wo das Püppchen im Bett liegt. Wie friedlich wäre das im Vergleich zu den konfliktgeladenen Weltuntergangsszenarien, die sich in Familien mit Pubertierenden abspielen!

Eine Umfrage unter betroffenen Eltern ergibt nur Begeisterung."Das wäre eine Katastrophe!" entgegnet der Kinder- und Jugendarzt Bernhard Stier, Beauftragter für Jugendmedizin in Hessen. Während der Pubertät muss innerhalb von fünf bis zehn Jahren der Wandel von der totalen Abhängigkeit zur Selbstverantwortlichkeit erfolgen. Um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein, vollzieht das Gehirn der werdenden Erwachsenen einen dramatischen Umbau.

Dieser Prozess bedingt eine Zeit der Destabilisierung, das Frontalhirn ist zeitweilig außer Gefecht gesetzt. Das Gehirn von Teenagern hat eine höhere Dopaminaktivität. Dopamin ist ein wichtiger Neurotransmitter, der das Gefühl von Zufriedenheit aktiviert. Dies unterstützt das Experimentieren, mit dem Sinn, gestärkte Individuen hervorzubringen. Dieses Herumexperimentieren unserer Lieblinge ohne Kontrolle durch das ausgeschaltete Frontalhirn macht den Eltern meist wenig Spaß. Vielleicht tröstet, dass in der Pubertät wirklich alles einen Sinn hat.

Provokationen, Auseinandersetzungen, das Rütteln an den Regeln der Gesellschaft - letztlich soll dies zu einer stabilen Lebenskompetenz führen. Dahinter steckt das Prinzip der Arterhaltung, also nicht nur Nachkommenschaft zu zeugen, sondern auch die Kompetenz zu haben, diese im Sinn des Fortbestands der Gemeinschaft großzuziehen. Wer sich immer noch nach einer Verpuppung sehnt, sollte sich fragen: Was hat so ein Insekt groß zu erwarten?

Maja Nielsen ist Schauspielerin und Autorin der erfolgreichen Sach- und Hörbuchreihe "Abenteuer & Wissen" (Gerstenberg/Headroom).

Szenario 2: Das ist eine wunderbare Idee! Eltern könnten fünf oder sechs Jahre lang in dem Glauben leben, dass ihr Nachwuchs ewig Kind bliebe. Ein Kind, das Fürsorge, Kontrolle, Erziehung, Essen, Pflege, Transport, Geld und all die anderen Dinge braucht, die dazu führen, dass Eltern sich gebraucht und wertvoll fühlen. Eltern könnten einen Zustand wiederfinden, in dem ihre eigenen Interessen, Sex und die reine Freude am Zusammensein den Familienalltag bestimmten.

Und was wäre es erst für eine Freude für die Jugendlichen! Sie könnten sich frei von Sorgen und Vorschriften entwickeln und würden nicht für das Leiden der gesamten Familie, der Lehrer und Gesellschaft verantwortlich gemacht werden, die Jugendliche nicht als wertvolle Ressource, sondern als das Problem Nummer eins sehen. Stattdessen erlebten sie eine neue Art von Mutterleib, die freudige Erwartung, die bedingungslose Liebe und die glücklichen Gesichter ihrer Eltern.

Stellen Sie sich all die Lebensenergie vor, die plötzlich für die jungen Menschen vorhanden wäre. Wie viel einfacher wäre es für sie, diese Welt von uns zu übernehmen. Die Jugendlichen wären geschützt vor den Medien und deren täglichen Enthüllungen über betrügerische Industrien und Politiker, geschützt auch vor der Tatsache, dass ihre (Groß-)Väter die eifrigsten Konsumenten von Hardcorepornos und Alkohol sind und ihre Mütter die legalisierter Drogen.

Unglücklicherweise erlitte der riesige Wirtschaftszweig, der den Markt mit unnützen Gütern, schädlichem Essen und tödlichen Drogen versorgt, schwere Verluste. Wir müssten uns fragen, ob wir uns dieses brillante Konzept überhaupt leisten könnten. Ich muss zugeben, es ist eine verlockende Aussicht. Man stelle sich vor, dass wir auch menstruierende Frauen, Mütter mit PMS-Syndrom, Männer in der Midlifecrisis und Frauen in der Menopause isolieren könnten - kurz: alle hormonbedingten Phänomene, die täglich das Familienleben stören. Was hätten wir für ein Leben und eine wundervolle Welt!

Jesper Juul ist Familientherapeut und Buchautor, unter anderen von "Das kompetente Kind" (rororo)

Lesen Sie auf Seite 3 was wäre, wenn es einen Gott gäbe.

... es einen Gott gäbe? von Michael Schmidt-Salomon

Wenn ein allmächtiger, allwissender, allgütiger Gott existierte, lebten wir in einer Welt ohne Hitler, Hunger, Hedgefonds und Haarausfall. Kein Kind würde je an Leukämie erkranken, und die Menschen würden sich nicht aufgrund religiöser oder nationalistischer Wahnideen die Köpfe einschlagen. Ein solcher Gott hätte nicht zugelassen, dass in seinem Namen Hexen verbrannt werden, und schon vor Jahrtausenden zu Menschenrechten, Freiheit, Demokratie und Tierschutz aufgerufen.

Von einem allmächtigen Gott dürften wir erwarten, dass er der beste PR-Mann des Universums wäre. Wenn er mit uns kommunizieren wollte, würde er als brennender Dornbusch in der UN-Vollversammlung erscheinen, oder seine frohe Botschaft in Leuchtbuchstaben in den Himmel schreiben: "Hey Leute, habt euch doch endlich lieb und glaubt an mich!" Niemals käme er auf den Gedanken, einen Teil seiner selbst (Gottessohn) von einer historischen Besatzungsmacht (den Römern) an einem entlegenen Ort (Jerusalem) am Kreuz hinrichten zu lassen und dann zu denken: "Na, die Leute werden schon verstehen, was ich damit bezweckt habe!"

Gott wäre ein eleganter Designer. Wenn er den Menschen hätte erschaffen wollen, hätte er keineswegs zuerst a) die Dinosaurier zum Leben erweckt, um dann b) einen riesigen Felsbrocken auf deren Heimatplanet einschlagen zu lassen, damit c) die Dinosaurier wieder aussterben, um so d) einigen Urratten die Chance zu geben, sich in Jahrmillionen zu Menschen zu entwickeln. Eine solch umständliche Schöpfungstat spräche nicht für intelligentes Design, sondern für Unzurechnungsfähigkeit.

Folglich: Da wir in einer Welt leben, die durch Hitler, Hunger, Haarausfall, Hedgefonds, Homophobie, durch Leukämie, Religionskriege und Artensterben gekennzeichnet ist, gibt es entweder keinen Gott oder dieser Gott ist ein Sadist, ein Dummkopf oder ein intergalaktischer Witzbold.

Michael Schmidt-Salomon ist Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung und Autor des "Manifest des evolutionären Humanismus" (Alibri).

Lesen Sie auf Seite 4, was wäre, wenn es keinen Gott gäbe.

... es Gott doch nicht gäbe? von Dr. Manfred Lütz

Szenario 1: Für jemanden, welcher der Überzeugung ist, dass Gott existiert, ist die Frage ein bisschen verrückt. Es ist, als würde man in der Süddeutschen Zeitung die Hypothese vertreten, es gäbe diese Zeitung überhaupt nicht. Die Frage ist also ziemlich abstrakt und insofern wahrscheinlich ungemein deutsch.

Wenn es Gott nicht gäbe, gäbe es zwar auch weiterhin Menschen, die sich bemühen würden, moralisch zu handeln. Doch Moralität wäre dann mit dem Stigma der Unvernünftigkeit belastet. Es ist vernünftigerweise nicht einzusehen, warum man edelmütig und moralisch handeln soll, wenn doch letztlich der Gute erfahrungsgemäß immer der Dumme ist. Vor allem aber: Wenn es Gott, den Schöpfer, nicht gäbe, wäre gar nichts da, auch das Papier nicht, auf dem Sie jetzt diese Schriftzeichen lesen.

Wenn es Gott nicht gäbe, könnten Sie darüber hinaus nicht sicher sein, ob es Sie gerade im Moment wirklich gibt. Zwar wird es Sie nächste Woche gegeben haben. Gewiss wird es Sie jetzt im Moment auch nächstes Jahr gegeben haben. Doch irgendwann wird es keinen Menschen und keine Erde mehr geben. Wenn es keinen ewigen Gott gibt, wird es Sie, verehrter Leser, dann jetzt im Moment nicht gegeben haben. Wenn es Sie aber nicht gegeben hat, dann gibt es Sie jetzt auch nicht. Schade eigentlich.

Dr. Manfred Lütz ist Facharzt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, Theologe und Schriftsteller. Zuletzt erschien sein Buch "Gott, eine kleine Geschichte des Größten" (Pattloch), für den er den Corine- Sachbuchpreis 2008 erhielt.

Szenario 2: Die menschliche Existenz würde sich einem in höchstem Maß unwahrscheinlichen Zufall verdanken. Es gäbe keine Gerechtigkeit nach dem Tod für die ungezählten Geschundenen der Geschichte. Der Mörder triumphierte endgültig über sein Opfer. Die Liebe wäre nicht ewig, sondern vergänglich, der verweste Leichnam wäre, nach dem Verlöschen der Erinnerung, alles, was vom Menschen bliebe.

Glaube, Hoffnung und Liebe hätten kein Ziel. Die Welt, der Mensch, wären ohne Gnade, zurückgeworfen auf das, was ist, ohne Glaube, ohne letzte Hoffnung, ohne Gottes tragende Liebe. Aber: Die Welt ist nicht so! Sie ist nicht finster - Finsternis ist in der Literatur eine Metapher für Gottesferne -, sondern erleuchtet von Gottes Gegenwart. Die kirchliche Liturgie lässt uns dies an Weihnachten wieder erleben.

Robert Zollitsch ist Erzbischof von Freiburg und seit Februar 2008 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.

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