Psychologie:Wann für uns die Tragödie beginnt

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Wir haben mehr Angst vor dem Fliegen als dem Autofahren - dabei sterben deutlich mehr Menschen im Straßenverkehr als bei Flugzeugabstürzen. Wissenschaftler bieten nun eine Erklärung für diese irrationale Risiko-Wahrnehmung.

Christopher Schrader

Wie Menschen mit Risiken umgehen, ist selten rational. Der tägliche Weg zur Arbeit erscheint vielen Autofahrern weniger gefährlich als eine Flugreise, ein Mobilfunkmast löst mehr Sorgen aus als Zigarettenkonsum - obwohl Tabak und Straßenverkehr objektiv mehr Menschen töten als Abstürze und Handystrahlen.

Einen Aspekt dieses Verhaltens haben Psychologen mit einer Reihe von Experimenten mit mehr als 800 Teilnehmern aufzuklären versucht ( PlosOne, Bd. 4, S. e32837, 2012).

Demnach steigt die Angst von Menschen, wenn es um potentielle Katastrophen geht, mit der Zahl der zu erwartenden Opfer. Von etwa einhundert Toten an jedoch bleibt der Grad des Schreckens konstant. Epidemie-Szenarien, Erdbeben oder Industrieunfälle mit 1000 Toten lösen nicht mehr Besorgnis aus als 100 potentielle Opfer.

Hinter diesem Ergebnis vermuten Mirta Galesic vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und Rocio Garcia-Retamero von der Universität Granada die uralte menschliche Furcht, das ganze soziale Umfeld auf einmal zu verlieren.

Schon in der Steinzeit, als viele psychologische Grundmuster geprägt wurden, hätten Menschen zu ungefähr hundert anderen Kontakt gehabt, und noch heute habe der engere soziale Kreis etwa diese Größe. Diese gesamte Gruppe auf einmal zu verlieren, bedeutete einst akute Lebensgefahr. Und auch in der modernen Gesellschaft kann sich ein Individuum offenbar kaum eine größere Tragödie vorstellen, als wenn alle Verwandten und Freunde auf einmal sterben. "Das muss sich aber niemand konkret ausmalen, die Furcht ist eine Art intuitive Reaktion", sagt Mirta Galesic. 1000 Opfer seien daher nicht schlimmer als 100.

Das lag nicht daran, dass den Befragten differenzierte Antwortmöglichkeiten fehlten: Bei 100 wie bei 1000 potentiellen Opfern wählten die meisten Probanden Werte zwischen sieben und acht auf der von null bis zehn reichenden Skala der Besorgnis; für zehn mögliche Todesfälle lagen die Werte ein bis zwei Punkte tiefer.

Das Ergebnis lässt sich auch nicht dadurch erklären, dass Menschen 100 und 1000 im Geiste schlicht als "viele" verarbeiten: Nach dem Verlust von Geld befragt, ärgerte sich eine Kontrollgruppe mehr über den Verlust der höheren als über den der niedrigeren Summe.

© SZ vom 12.04.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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