Polio-Warnung:Die vergessene Gefahr

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Kinderlähmung breitet sich von Indien her aus - und könnte auch wieder den Rest der Welt bedrohen.

Christina Berndt

Die Seuchen, welche die Welt jüngst in Aufregung versetzten, kamen aus dem Hinterhalt. Bei Aids, Sars oder der Vogelgrippe begannen Erreger, die sonst nur Tiere befallen, sich auch Opfer unter Menschen zu suchen.

Polio-Opfer Muke Lubenko, 20, hilft der vierjährigen Singi Ndombasi (Mitte) und Prefina Nzuzi, 5, bei der Krankengymnastik. (Foto: Foto: Reuters)

Mit dieser Krankheit aber ist das anders: Derzeit droht eine altbekannte Seuche neuen Aufwind zu bekommen, und es ist auch klar, von wo sie ihren Ausgang nehmen wird: Die Kinderlähmung könnte bald von Indien aus in den Rest der Welt zurückkehren, befürchtet die Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Indien gehört zu den letzten Ländern der Erde, in denen das Polio-Virus noch wütet. Während Europäer und Amerikaner die Kinderlähmung fast vergessen haben, die vor der Einführung von Impfungen Angst und Schrecken auslöste, gibt es in Indien, Pakistan, Nigeria und Afghanistan seit langem und jedes Jahr wieder einige Fälle von Polio.

Doch diesmal sind es in Indien mehr als nur einige. Es habe eine "alarmierende" Zunahme von Polio-Kranken im Bundesstaat Uttar Pradesh gegeben, meldet die WHO.

121 Kranke wurden dort inzwischen gezählt. Der Ausbruch sei bedeutsam für die ganze Welt, sagt David Heymann, der Polio-Fachmann der WHO. "Die möglichen Auswirkungen sind sehr ernst. Denn die Kinderlähmung akzeptiert keine Grenzen."

Schon bisher gingen die meisten Polio-Exporte von Indien aus. Alle Länder mit größeren Neu-Ausbrüchen sind in den vergangenen zwei Jahren durch Viren vom indischen Subkontinent infiziert worden.

Reisende brachten die Erreger nach Angola, Namibia, Nepal und Bangladesch. Dabei hatte die WHO schon gehofft, endlich ihre ehrgeizigen Pläne umsetzen zu können: 1988 hatte sie sich zum Ziel gesetzt, das Polio-Virus weltweit auszurotten.

Weil es Impfstoffe gibt und der Erreger nur im Menschen überleben kann, sollte die Kinderlähmung nach den Pocken als zweite Krankheit komplett vom Erdball verschwinden.

"Paradies für das Virus"

Drei Kontinente, Europa, Amerika und Australien, sind offiziell bereits "poliofrei". "Wir hatten gehofft, dass wir Indien in diesem Jahr denselben Status verleihen können", sagt WHO-Sprecher Oliver Rosenbauer.

Dieses Ziel ist nun gefährdet.

Denn auch wenn sich die Zahl der Fälle noch gering anhört: Die Bevölkerungsdichte in Uttar Pradesh ist gigantisch. 40 Millionen Kinder unter fünf Jahren leben dort, und jeden Monat werden 500.000 weitere geboren.

"Die Gegend ist ein Paradies für das Virus", sagt Rosenbauer. Die Armut und die schlechten hygienischen Zustände erschwerten das Impfprogramm ebenso wie Gerüchte, der Impfstoff mache unfruchtbar.

Vorurteile gegenüber Impfungen haben allerdings auch Menschen in den Industrienationen. Sie wissen nicht mehr, wie die Kinderlähmung Millionen ihrer Opfer verkrüppelte oder in die eiserne Lunge zwang.

"Der Polio-Impfschutz der deutschen Bevölkerung beträgt zwar über 90 Prozent", sagt Eckart Schreier vom Nationalen Referenzzentrum Poliomyelitis. Aber die große Zahl von Reisegruppen in betroffene Länder beunruhigt ihn.

Die Touristenströme gelangen sogar in das arme Uttar Pradesh. "Wenn die letzte Impfung mehr als zehn Jahre zurückliegt, muss sie unbedingt aufgefrischt werden", warnt Schreier, und WHO-Mann Heymann ergänzt: "Es wäre eine Tragödie, mitansehen zu müssen, wie die Welt von Indien aus wieder infiziert wird."

© SZ vom 4.8.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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