Plastische Chirurgie:Der Gesichtsmacher

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Ein Junge ohne Nase, ein Skifahrer mit einem Zweig im Kopf, ein Kind mit wuchernden Schädelknochen: Ein Mediziner in Basel hilft entstellten Menschen mit individualisierten Methoden.

Petra Thorbrietz

Der Kinderschädel sieht verblüffend echt aus, aber er ist aus durchsichtigem gelben Kunstharz. Ein naturgetreues dreidimensionales Modell des knöchernen Kopfes, das der Mediziner Hans-Florian Zeilhofer in der Hand hält.

Eine virtuelle Aufnahme zeigt den Schädel des Jungen Vedran, dessen Knochen unkontrolliert wuchsen. (Foto: Computersimulation: HFZ)

"Dieser Junge ist ohne Nase geboren worden", sagt er. Er dreht das Objekt und fasst behutsam hinein, tastet nach den Vertiefungen der Nebenhöhlen: "Da innen sehen Sie, dass im Ansatz alles für die Nase angelegt ist, aber sie fehlt. Ein Irrtum der Natur, durch den das Wachstum an dieser Stelle im embryonalen Stadium stehengeblieben ist. Wir müssen nun den Körper dazu anregen, die Nase nachträglich aufzubauen!"

Zeilhofer, ein gebürtiger Bayer, leitet das weltweit einzigartige Hightech-Forschungs-Zentrum für wiederherstellende Chirurgie (HFZ) an der Universität Basel, und er ist Leiter eines interdisziplinären Forschungsschwerpunkts für chirurgische Technologien. Mit einem Team von 150 Ärzten, Mathematikern, Informatikern und Ingenieuren erarbeitet er bahnbrechende Methoden für komplizierte chirurgische Eingriffe.

Seine Patienten haben Gesichter, die durch Genschäden, Krankheiten oder Unfälle entstellt sind, und sie kommen aus der ganzen Welt. Der fünfjährige Junge zum Beispiel ist aus Mali, und die Vorbereitungen für seine Operation dauerten über ein Jahr. Vor wenigen Wochen wurde der Eingriff vorgenommen, jetzt wächst tatsächlich eine Nase im Kindergesicht.

"Wir haben dem Kind in den Nasenansatz ein Gerät eingesetzt, das durch langsames Auseinanderziehen der Knochenstümpfe das Wachstum stimuliert. Dieser Apparat wurde in unserem Forschungszentrum von einem Team aus Ingenieuren, Mathematikern, Informatikern und Chirurgen anhand dreidimensionaler Computerdarstellungen entwickelt und am Kunstkopf getestet", sagt Zeilhofer.

Ungewöhnliche Blickwinkel

Die zarten Ansätze des Nasenbeins sollen vorsichtig gedehnt und dabei nach außen aufgefaltet werden: "Das hat vor uns noch nie jemand gemacht." Hinter dieser Arbeit steht mindestens genauso viel technisches wie medizinisches Wissen, plus die Erfahrung aus dem jahrelangen Training im Operationssaal, aber auch Intuition und Offenheit für neue Impulse.

Die holt sich Zeilhofer auch außerhalb seines eigenen Fachgebiets: "Gesicht und Identität" heißt ein Forschungsprojekt, an dem sich auch bildende Künstler, Musiker und Philosophen beteiligen. Ungewöhnliche Blickwinkel sind wichtig in der plastischen Gesichtschirurgie.

Virtuelle Visualisierungsverfahren können dabei eine große Hilfe sein, das bewies zum Beispiel der Sturz eines Skifahrers im vergangenen Jahr. Mit einer kleinen Verletzung im Gesicht kam der 49-Jährige im Februar in die Uniklinik. Er war neben der Piste im Wald gestürzt, und als er sich wieder aufrappelte, steckte ein Stück eines Astes in einer kleinen Wunde unterhalb des Jochbeins.

Das hatte der Sportler ohne Probleme herausgezogen, und die Wunde hörte auf zu bluten. Die Röntgenaufnahmen aus der örtlichen Klinik zeigten keine weiteren Verletzungen. Doch dann traten plötzlich Schluckbeschwerden auf, und der Patient klagte, er könne seinen Kopf "irgendwie nicht richtig drehen".

Die Überweisung an das Unispital Basel war Rettung in letzter Sekunde. Obwohl auch die Schichtbilder eines Computertomographen unauffällig erschienen, gelang es einem Informatiker aus Zeilhofers Team, aus den digitalen Bilddaten verschiedenster Aufnahmeverfahren abweichende Strukturen herauszurechnen und auf dem Bildschirm darzustellen.

Und siehe da: Im Kopf des Skifahrers steckte ein fast 20 Zentimeter langer Zweig. Der hatte sich bei dem Zusammenstoß durch die Kieferhöhle gebohrt, war nur wenige Millimeter an der Halsschlagader vorbeigeschrammt und hinten im Nacken kurz vor dem Rückenmarkskanal steckengeblieben, gebremst nur durch einen Wirbelfortsatz.

Um ein Haar wäre der Skifahrer verblutet oder vom Hals abwärts gelähmt gewesen. Die Computersimulation rettete ihm das Leben und ermöglichte eine passgenaue Operation: "Ich hab den Patienten bei der Nachkontrolle gesehen", Zeilhofer lächelt zufrieden. "Es geht ihm heute bestens."

Im Büro des polnischen Mathematikers Zdzislaw Król rotiert der Schädel dieses Patienten in verschiedenen Darstellungen auf mehreren Bildschirmen. Mal treten die Schädelknochen hervor, so dass der Bruch des Deckels der Kieferhöhle gut zu erkennen ist, dann bauen sich auf Knopfdruck Nervenstränge und Blutgefäße in unterschiedlichen Farben auf und schließlich auch Muskeln und Fleisch, bis das Gesicht des Patienten zu erkennen ist. Am Ende hat sich die abstrakte anatomische Darstellung in einen realen Menschen verwandelt.

Dass man mit Hightech individualisierte Medizin betreiben kann, fasziniert Zeilhofer. Die Umsetzung von Röntgenbildern in maßstabgetreue Schädelmodelle hat sein Team aus der Automobilfertigung entlehnt.

Patient Vedran: Geleitet durch Computersimulationen frästen Chirurgen die verdickte Schädeldecke ab. (Foto: Foto: HFZ)

Ein Computer wird mit den digitalen Daten des Kopfes gefüttert und steuert dann ein sogenanntes Rapid-Prototyping-Verfahren. Kunstharzpulver wird Schicht für Schicht aufgetragen, während ein UV-Laser die Umrisse des Schädels beschreibt. Dabei schmilzt das Material und härtet aus.

Individuelle Anatomie

Als Zeilhofer das Verfahren an der TU München entwickelte, hatten ihn seine Kollegen noch belächelt: Der macht eigenartige Versuche inmitten seiner 500 Forschungsköpfe in einem ehemaligen Kohlenkeller. Doch die Industrie wurde sofort hellhörig: "Ich konnte einem Hersteller ganz praktisch beweisen, dass seine Werkzeuge nichts taugten, weil ihre Formen für einen Normkopf entworfen worden waren. Das wahre Leben ist aber ganz unregelmäßig!"

Früher waren Chirurgen bei räumlich komplexen Operationen ganz auf das Sehen und ihr Tastgefühl angewiesen. Inzwischen ergänzen elektronische Messungen ihr räumliches Empfinden. "3-D-geplante Operationen sind Standard", sagt Oberarzt Philipp Jürgens. "Doch wir passen die Messwerte präzise an die individuelle Anatomie des Patienten an. So können wir bei der Rekonstruktion zerstörter Gesichtspartien die ursprüngliche Form nachberechnen und wiederherstellen."

Um diese Planung millimetergenau in den OP zu übertragen, nutzen die Basler Chirurgen ein ausgefeiltes Navigationssystem: Vor dem Eingriff werden Schienen mit Markierungspunkten am Schädel fixiert und von zwei Kameras fokussiert. Sie liefern räumliche Daten vom realen Kopf, die dann passgenau von seinem virtuellen Abbild überlagert werden.

So sehen die Chirurgen auf dem Monitor trotz Blut und Knochenspänen, in welchem Abschnitt des Kopfes sie gerade arbeiten. Sie können, während sie etwa einen abgesägten Teil des Unterkiefers in eine neue Position bringen, am Computermodell mitverfolgen, ob dabei das Schlucken, die Speichelbildung oder die Nerven der Zunge gestört werden und ob die Zähne aufeinander passen.

In Zukunft wird man die virtuellen Daten direkt auf das Gesicht des Patienten projizieren. Zeilhofer testet bereits eine halbdurchlässige Folie, die sich wie ein transparenter Bildschirm über das Operationsfeld ziehen lässt. "Der nächste Schritt", sagt er und klickt auf seinem Laptop eine Datei an, "soll die Datenerfassung noch um ein Vielfaches beschleunigen."

Schock der Korrektur

Eine Präsentation mit vielen verschiedenen Köpfen leuchtet auf, Kurven mit statistischen Häufungen, dann verschwinden alle Gesichter in einem einzigen. Informatiker haben ausgeknobelt, wie sich Veränderungen von Gesichtern simulieren lassen - von jung nach alt, von dünn zu dick, von männlich zu weiblich.

Virtuelle Simulationsprogramme ermitteln künftig binnen Sekunden, wie eine Gesichtskorrektur natürlich wirkt. Außerdem hilft die Simulation den Betroffenen schon vor der OP, sich mit ihrem neuen Äußeren anzufreunden. "Auch wenn eine Korrektur für unser Empfinden gelungen ist und schön aussieht, kann sie für den Betroffenen ein Schock sein", sagt Zeilhofer.

Doch obwohl Ästhetik wichtig ist, hat Zeilhofers Arbeit mit Schönheitschirurgie wenig zu tun. Er operiert Menschen mit schweren oder lebensbedrohlichen Entstellungen - eine junge Frau zum Beispiel, deren Kieferknochen durch das gefährliche Ewing-Sarkom zerstört wurde, oder Patienten mit angeborenen Lippen-Kiefer-Gaumenspalten.

Als nach dem Sturz Ceaucescus in Rumänien die Missstände in Waisenhäusern bekannt wurden, fuhr Zeilhofer mit einem Ärzteteam nach Siebenbürgen, um die vielen Kinder mit Hasenscharte zu operieren, die weggesperrt worden waren. Die Aktion wurde über Spenden finanziert, die er gemeinsam mit Medien auftrieb.

Zeilhofer kennt keine Berührungsängste, auch wenn es um medizinische Grenzfälle geht. So hatte der Fernsehsender Pro7 vor Jahren bei ihm angefragt, ob er einem Jungen namens Vedran helfen könnte, der an einer seltenen Krankheit litt: Seine Schädelknochen wuchsen unkontrolliert und drohten, das Gehirn zu erdrücken. "Ich bin bereit zu helfen, wenn der Sender bereit ist, eine Operation zu bezahlen - falls sie möglich ist", antwortete er.

Er wagte dann den beispiellosen Eingriff, doch der erste Versuch, den übergroßen Schädelknochen abzutragen, scheiterte an den Werkzeugen, die der Belastung nicht standhielten. Die Operation musste nach wenigen Millimetern abgebrochen werden, um dem Jungen Blutverluste zu ersparen.

Zeilhofer gab nicht auf. Mit seinem Forschungsteam entwickelte er eine neue OP-Technik, die mit Hilfe präziser 3-D-Planung und verbesserter Antriebsmotoren einen neuen Versuch ermöglichte. Heute ist Vedran 19 Jahre alt und hat nun eine echte Überlebenschance.

© SZ vom 22.01.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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