Neandertal:"Wir graben in Genen statt in Höhlen"

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Vor 150 Jahren wurde der Neandertaler entdeckt: Ein Gespäch mit dem Paläogenetiker Svante Pääbo, der in Leipzig die DNS des Urmenschen erforscht.

Hubert Filser

Zu Besuch in Leipzig, am Institut für Evolutionäre Anthropologie. In der Eingangshalle ist eine Kletterwand mit Überhang eingerichtet. Svante Pääbo liebt anspruchsvolle Aufgaben. Er ist ein Star unter den Wissenschaftlern, schließlich gilt er als Mitbegründer der Paläogenetik, einer Forschungsrichtung, die in den vergangenen zehn Jahren viel Schwung in die Anthropologie gebracht hat. Dabei läuft der Molekularbiologe trotz seiner Berühmtheit schon mal in Socken durch die Gänge.

So könnte er ausgesehen haben: Eine Rekonstruktion des Neandertalers, in Bonn . (Foto: Foto: dpa)

SZ: Als Sie anfingen, DNS von Neandertaler-Knochen zu untersuchen, konnten Sie da sicher sein, dass Sie überhaupt ein Ergebnis erhalten würden?

Pääbo: Nein. Umso toller war es, dass wir sofort Sequenzen bekommen haben, die nicht aussahen wie die eines normalen Menschen, dem wir auf der Straße begegnen. Wenn es anders gewesen wäre, hätten wir ein Problem gehabt. Würde nämlich der Neandertaler genetisch betrachtet genauso aussehen wie wir, hätten wir nie gewusst, ob wir nicht gerade eine Verunreinigung sehen, also Material, das irgendein Forscher während der Ausgrabung oder später an der Probe hinterlassen hat.

Moderne Menschen sind die hauptsächliche Quelle von Verunreinigungen. Würden wir etwa sechs Höhlenbären untersuchen, würden wir bei jedem Bären menschliche DNS finden.

SZ: Ist jeder Knochen verunreinigt?

Pääbo: Ja. Wir suchen gerade Neandertaler-Knochen mit sehr geringer Verunreinigung. Die können wir daran erkennen, dass die Mitochondrien-DNS aus einer Probe zu 98 Prozent vom Neandertaler stammt. Bei diesen Knochen wollen wir dann Kern-DNS untersuchen.

SZ: Sieht man Unterschiede schnell?

Pääbo: Bei den Teilen des Erbguts, die sich schnell verändern, schon, wie die Sequenzen, die wir 1997 untersuchten. Als die Analyse aus dem Sequenziergerät kam, sahen wir sofort, dass es Veränderung gegeben hat. Das war toll, es war schließlich das erste Mal, dass man von einer ausgestorbenen Menschenform Erbgut untersucht und Sequenzen gesehen hat.

Wenn wir jetzt Kern-DNS untersuchen, gibt es sehr wenige Unterschiede, weil sich die meisten Teile unseres Genoms langsam verändern und wir ja viel näher verwandt sind mit dem Neandertaler als etwa mit dem Schimpansen.

SZ: Hatten Sie das Ergebnis erwartet?

Pääbo: Es gab vor der Untersuchung zwei Ideen: Entweder ist der Neandertaler unser direkter Vorfahr in Europa oder alle modernen Menschen stammen aus Afrika, ohne Mischung. Das Ergebnis war eindeutig: Die Sequenzen sehen nicht so aus wie die heute lebender Menschen. Der Neandertaler hat zu unserem Erbgut keinen Beitrag geleistet. Die Sequenzen der insgesamt zwölf inzwischen untersuchten Neandertaler stimmen gut überein und sind gleichzeitig sehr verschieden von denen moderner Menschen. Die Variation der Neandertaler untereinander ist sehr klein. Das deutet auch darauf hin, dass die Neandertaler auf eine relativ kleine Population zurückgehen.

SZ: Wie der moderne Mensch.

Pääbo: Ja, alle heute lebenden Menschen stammen von einer Population von etwa 10 000 Menschen ab. Beim Homo sapiens stammt diese Gruppe wohl aus Afrika, beim Neandertaler aus Europa.

SZ: Kann man die Ursprungsregion des Neandertalers lokalisieren?

Pääbo: Noch nicht. Wenn wir eines Tages viele Sequenzen haben, können wir vielleicht sehen, dass es irgendwo in Europa oder im westlichen Asien eine Wurzel gibt. In der Zeitspanne, in der die Neandertaler gelebt haben, gab es mehrere Eiszeiten. Die Neandertaler haben sich immer wieder zurückgezogen und erneut ausgebreitet.

SZ: Gibt es Vermutungen zu einer Ursprungsregion?

Pääbo: Sicher ist nur, dass Neandertaler und moderner Mensch einen gemeinsamen Ursprung haben, der eine halbe Million Jahre zurück liegt, in Afrika.

SZ: Sie gelten als Begründer der Paläogenetik, eines Wissenschaftszweigs, der der Anthropologie mit rasantem Tempo neue Erkenntnise beschert. Sind klassische Anthropologen skeptisch?

Pääbo: Das war bis Ende der 90er-Jahre so. Inzwischen empfinde ich die vorsichtige Distanz nicht mehr. Es ist ja auch eine gegenseitige Abhängigkeit. Wir brauchen die Funde der Archäologen und müssen unsere Erkenntnisse der Molekulargenetik mit anatomischen Befunden in Einklang bringen.

SZ: Aber gerade Sie können doch eine Reihe exponierter Veröffentlichungen vorweisen, gelten als Star der Szene.

Pääbo: Ach, unsere Arbeit ist kein Zweck in sich selbst. Anfangs gab es eine Gruppe von Paläologen, die die Erkenntnisse, dass der Mensch aus Afrika stammt, nicht wahrhaben wollte. Diese Gruppe ist inzwischen klein geworden, begrenzt auf die University of Michigan.

SZ: Sie haben einen anderen Geist in die Anthropologie gebracht. Vorher gruben, suchten, fanden die Anthropologen ihre Knochen, arbeiteten draußen. Sie arbeiten im Labor in sterilen Umgebungen mit komplexen High-Tech-Geräten.

In der Bonner Ausstellung "Roots" sind u.a. diese Schädel zu sehen: Links ein etwa 45.000 Jahre alter Neandertaler aus der israelischen Amud-Höhle; daneben ein 35.000 Jahre alter Homo Sapiens aus Rumänien; rechts ein etwa 30.000 Jahre alter Homo Sapiens aus Frankreich (Foto: Foto: dpa)

Pääbo: Die Situation ist vergleichbar mit der Zeit, als die Kohlenstoffdatierung kam. Manche waren beunruhigt, weil es plötzlich eine physikalische Methode gab, die ihre Thesen in Frage stellen konnte.

Aber gute Wissenschaftler assimilieren neue Ergebnisse und neue Ideen. Klar ist aber auch, dass Paläontologie ein Bereich ist, in dem es viel Streit gibt.

Das liegt auch daran, dass es mehr Paläontologen gibt als interessante Funde. Man kann sich nur profilieren, indem man alte Funde neu interpretiert. Und dann steht man immer im Gegensatz zu jemand anderem.

SZ: Sie haben gesagt: Wir sind Archäologen, die nicht in Höhlen, sondern in Genen graben. Ist das ein ähnliches Gefühl?

Pääbo: Ja, ich denke schon. Genau wie in der Archäologie können wir nie die ultimative Wahrheit finden. Wir können nur eine Vorstellung der Vergangenheit entwickeln, basierend auf Modellen der Evolution, und diese anhand der DNS überprüfen.

SZ: Weshalb wollen Sie nun das Neandertaler-Genom entschlüsseln?

Pääbo: Es wird helfen, unser eigenes Genom besser zu verstehen. Das am nächsten verwandte Genom ist bisher das des Schimpansen, seit dem letzten gemeinsamen Vorfahr sind fünf Millionen Jahre vergangen, in denen die Evolution den Menschen verändert hat. Das heißt, es haben sich sehr viele Unterschiede angesammelt.

Im Vergleich zu den Schimpansen haben wir 35 Millionen Mutationen. Der anatomisch moderne Mensch entstand vor hundert- bis zweihunderttausend Jahren. Er entwickelte Technologien, kolonisierte die gesamte Welt in einem Bruchteil der fünf Millionen Jahre. Wenn wir das Neandertaler-Genom hätten, könnten wir alle Veränderungen der vergangenen 500.000 Jahre sehen.

SZ: Das ist, als ob man eine genauere Lupe hätte, um im Genom zu suchen.

Pääbo: Genau. Die Unterschiede sind nur noch zehn Prozent der Unterschiede zum Schimpansen. Wir können gezielt nach Veränderungen suchen. Und ich finde, man sollte es in Deutschland machen. Der erste Neandertaler wurde in Deutschland gefunden. Es wäre peinlich, wenn das erste Neandertaler-Genom in Amerika sequenziert würde. Immerhin geht es um jemanden, den manche "den berühmtesten Deutschen" nennen.

SZ: Könnte man das Genom denn so leicht sequenzieren?

Pääbo: Ja, das Projekt wird einiges kosten, aber dank neuer Techniken weniger als vor ein paar Jahren gedacht. Wichtig sind gute Knochen. In einer guten Neandertaler-Probe stammen etwa fünf Prozent vom Neandertaler, 95 Prozent sind irrelevant - Bodenbakterien, Pilze. Wir haben in Leipzig zwei solcher guten Knochenproben aus Oberschenkeln, die eine stammt vom Typus-Exemplar aus dem Neandertal, der zweite aus Kroatien.

SZ: Ein interessanter Genomabschnitt wäre das Gen FoxP2, das als wichtig für die Sprechfähigkeit gilt.

Pääbo: Wir suchen natürlich nach FoxP2, aber das ist sehr schwierig. Der bessere Weg ist sicher, das gesamte Genom zu entschlüsseln, das ist eine Resource für die Zukunft. Wir können dann auch Unterschiede anschauen, die wir heute noch nicht als wirklich wichtig empfinden.

SZ: Kann man bei FoxP2 denn wirklich sagen: Dieses Gen hängt mit der Sprechfähigkeit zusammen?

Pääbo: Wir wissen bislang nur, dass Menschen eine komplexe Sprachfähigkeit haben, Schimpansen nicht. Irgendeine Veränderung in den letzten 250 000 Jahren hat dem modernen Menschen hier einen Vorteil gebracht. Wir kennen bislang nur ein Gen, das mit Sprachfähigkeit zu tun hat: FoxP2. Wenn es mutiert ist, gibt es Probleme mit der Sprache und der Muskelkoordination. Die Musikalität ist ebenfalls betroffen, Leute treffen zwar den Ton, haben aber Schwierigkeiten mit dem Rhythmus.

Die Millisekundenkontrolle der Stimmbänder, der Zunge, der Lippen, die nötig ist, um artikuliert zu sprechen, funktioniert nicht mehr. Ein Schimpanse kann natürlich auch Geräusche machen, eine Mitteilung überbringen, aber er ist wahnsinnig langsam. Wir untersuchen das nun bei der Maus, wir wollen sehen, ob die Maus irgendetwas besser tun kann, wenn wir das FoxP2-Gen in ihr Genom einbauen.

SZ: Vielleicht kann sie dann sprechen?

Pääbo: Ja, wir haben versucht, mit ihr zu sprechen, aber sie hat nicht geantwortet. Wir untersuchen auch ihre Vokalisation. Mäuse machen Geräusche, wenn sie neugeboren sind, die wir im Ultraschall aufnehmen. Die Männchen singen auch, wenn sie Weibchen riechen. Vermutlich wird sich dabei nicht viel ergeben, aber es wäre blöd, das nicht zu untersuchen.

SZ: Es sieht so aus, als wären künstlerische Fähigkeiten beim Homo sapiens vor etwa 35.000 Jahren plötzlich da gewesen.

Pääbo: Es ist natürlich verlockend zu sagen, diese Fähigkeit hängt auch mit moderner Sprache zusammen. Aber bewiesen ist es nicht. Wie bei der Sprache, ist es sicherlich auch so, dass die künstlerische Fähigkeit eine längere Vorgeschichte hat - Sprache hängt ja auch nicht nur mit Artikulation zusammen, sondern mit vielen anderen Fähigkeiten.

SZ: Wobei bei den Funden etwa in der Schwäbischen Alb neben figürlichen Darstellungen auch eine Flöte war.

Pääbo: Es passt alles sehr gut zusammen. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Neandertaler ebenfalls Werkzeuge hatte und soziale Gruppen bildete. Sicher hatte der Neandertaler eine Form von Sprache, auch der Homo erectus. Aber ob es die Sprache ist, die wir kennen, kann ich nicht sagen.

SZ: Wie ist Ihr Bild vom Neandertaler?

Pääbo: Ich versuche mich fernzuhalten von allzu wilden Spekulationen. Ich wünsche mir, dass die molekuläre Anthropologie dazu beiträgt, dass wir öfter sagen: Das wissen wir und das wissen wir nicht. Natürlich könnte ich spekulieren, wie es war, als sich Neandertaler und moderner Mensch trafen und ob sie Sex hatten. Ich habe aber keine Lust, es gibt x Romane darüber.

SZ: Ist nicht gerade die Spekulation eine Triebfeder der Anthropologie?

Pääbo: Das ist gerade das Gefährliche. Es ist schwierig, aus unseren kulturell bedingten Vorstellungen auszusteigen. Aber genau das sollten wir tun. Wir haben doch Daten, die man objektiv beurteilen kann. Deshalb spekuliere ich auch nicht über den Neandertaler, denn es sagt viel mehr über mich aus als über den Neandertaler.

Manchmal denke ich aber, dass es interessant wäre, wenn der Neandertaler auch noch die letzten 30 000 Jahre geschafft hätte und noch leben würde. Dann hätten wir uns nicht so deutlich vom Menschenaffen trennen und die absolute Grenze zu Tieren setzen können.

Wenn noch eine Menschenform existieren würde, die in Vielem uns sehr ähnlich wäre und in manchem doch ganz anders, wären wir vielleicht in unseren eigenen Augen nicht mehr so selbstverständlich die Krone der Schöpfung.

© SZ vom 7.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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