Naturwissenschaft und Weltanschauung:Tante Bibi im All

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Relativitätstheorie fürs Volk: Wenn Wissenschaft zur Weltanschauung wird, entstehen Ungeheuer.

Von Ulrich Kühne

We need a different Weltanschauung." Der amerikanische Krebsforscher Robert Weinberg kommentiert neue Entdeckungen aus seinem Labor gerne mit diesem Satz. Die Meinung wird von Gegnern und Befürwortern der Gentechnik geteilt, die in den öffentlichen Debatten über das "Neue Bild vom Menschen" diskutieren, das die Naturwissenschaften nahelegten. Oder über die Frage, ob nicht auch die Menschenwürde unter dem Druck wissenschaftlicher Tatsachen neu definiert werden müsse, wie Hubert Markl, der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, meint. Die Grenzüberschreitungen zwischen Wissenschaft und Kultur sind kein neues Phänomen, aber ein gefährliches, wie die Geschichte der Relativitätstheorie zeigt.

Der Anfang der Tragödie trug noch humoristische Züge. Ein Professor Albert Einstein hatte während des Ersten Weltkriegs eine neue physikalische Theorie aufgestellt, und gleich nach Kriegsende war sie in aller Munde. Nicht nur die Fachkollegen, jeder wollte plötzlich wissen, was es mit dieser "allgemeinen Relativitätstheorie" auf sich hat, und so füllten sich die Feuilletons mit Erklärungsversuchen.

"'Sag mal, kannst Du mir erklären, was Einstein mit seiner Relati ...' 'Aber selbstverständlich. Es ist blitzeinfach: Denk Dir, am Bahndamm steht ein Mann, und oben fährt ein zehn Kilometer langer Zug. Nun schickst Du einen Lichtstrahl durch den Zug. Durch die Belichtung wird der Mann am Bahndamm jünger. Das ist die Relativitätstheorie.'" stand in der Berliner Illustrierten Zeitung. Mit der Relativitätstheorie hat man sehr seltsame Konsequenzen verbunden. Der Hannoversche Anzeiger erklärte: "Wenn ich meine Tante Bibi mit der Geschwindigkeit eines Lichtstrahls hinaus ins Weltall schleudere und ich hole sie an der Ekliptik plötzlich zurück, und die Erde hat sich 100 Jahre gedreht, wird die Tante noch immer sagen, sie sei 28 Jahre alt, obwohl sie unberufen schon 45 ist."

Peinlichkeit im Tuchgeschäft

Was die Relativitätstheorie zu behaupten schien, lud zum Witzemachen geradezu ein. Aber die Skurrilitäten, die dem Publikum hier - physikalisch grob falsch - serviert wurden, waren mit der Autorität der ultimativen wissenschaftlichen Wahrheit garniert. Auch jeder Laie müsse nun sein Alltagsverständnis von der Welt revidieren, war in den Zeitungen zu lesen. Das konnte nicht gut gehen. Schon 1920 schrieben die Düsseldorfer Nachrichten: "Harmlose Leute, die stolz darauf sind, daß sie sich über die neusten Fortschritte der Wissenschaft orientieren, sind in die seltsamste Geistesverwirrung versetzt worden. ... Es ist sicherlich für eine junge Dame im Tuchgeschäft höchst peinlich, zu erfahren, daß eine Elle Stoff, die sie in der Richtung von Osten nach Westen abschneidet, kürzer ist als eine Elle, die sie von Norden nach Süden abschneidet. Aber Einstein beweist es, und die Verkäuferin sieht sich einem furchtbaren Drama gegenüber. ... So ruft die Einsteinsche Lehre wahre Verheerungen in den Gemütern hervor, und die Gemütsruhe bewahren nur jene glücklichen Seelen, wie die alte Dame, die auf die Mitteilung, daß das Licht gebrochen wird, erklärte, das sei ihr ganz egal und zu garnichts gut."

In den Fehlern der Journalisten und Intellektuellen der Weimarer Zeit, die neue Physik von Relativitätstheorie und Quantenmechanik dem breiten Publikum zu vermitteln, sieht Carsten Könneker in seinem jüngst erschienenen Buch eine Ursache für den Aufstieg des Nationalsozialismus. ("Auflösung der Natur - Auflösung der Geschichte." Moderner Roman und NS-"Weltanschauung" im Zeichen der theoretischen Physik. Metzler Verlag, Stuttgart.) Die Verbindung von Naturwissenschaft mit religiösen und weltanschaulichen Fragen bilde eine hochbrisante Mischung, die bei wissenschaftlichen Laien zu abstrusen Überzeugungen und obskuren Heilserwartungen führen könne. War die nationalsozialistische Ideologie von Volk und Rasse eine Reaktion auf die geistige Erschütterung, die Relativitätstheorie und Quantenmechanik in den Köpfen von Laien auslösen?

Namhafte Physiker hatten schon vorher befürchtet, dass die Naturwissenschaft nicht nur durch neue technische Möglichkeiten (wie die Atombombe) Gefahren birgt, sondern noch größere durch moralische Verwirrung und Entwurzelung, die die Entstehung neuer Theorien bringt. Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb Nobelpreistäger Max Born: "Die politischen und militärischen Schrecken sowie der vollständige Zusammenbruch der Ethik, deren Zeuge ich während meines Lebens gewesen bin, sind kein Symptom einer vorübergehenden Schwäche, sondern eine notwendige Folge des naturwissenschaftlichen Aufstiegs - der an sich eine der größten intellektuellen Leistungen der Menschheit ist."

Können Entdeckungen aus dem Bereich der Naturwissenschaften zum "Zusammenbruch der Ethik" führen? Könneker sieht das Problem weniger in der Sache selbst - den Theorien der Naturwissenschaft -, als vielmehr in ihrer ungeeigneten Vermischung mit nicht-naturwissenschaftlichen Fragen. Aber dies war keine Neuheit der Nationalsozialisten; auch die Anhänger Einsteins hatten schon früh damit begonnen, aus der Relativitätstheorie ein neues Welt- und Menschenbild abzuleiten.

Im öffentlichen Ansehen wurde Einstein zur Kultfigur, zum unverständlichen, aber erleuchteten Indianerhäuptling einer neuen "naturwissenschaftlichen" Sekte, der "Relativisten". Seine Gegner sahen darin eine "Weltverschwörung". Der Völkische Beobachter, Propagandaorgan der Nationalsozialisten, raunte schon 1921: "Wissenschaft, einst unseres Volkes größter Stolz, wird heute gelehrt durch Hebräer, denen im günstigsten Fall diese Wissenschaft nur Mittel ist zu ihrem eigenen Zweck, zum häufigsten aber Mittel zur bewußten planmäßigen Vergiftung unserer Volksseele und dadurch zur Herbeiführung des inneren Zusammenbruchs unseres Volkes."

Zersetzende Physik

Gibt es eine Mitschuld der Wissenschaftsfeuilletons am Nationalsozialismus? Lassen sich, wenn man Naturwissenschaften aus einer kulturellen Perspektive betrachtet, Wertfragen überhaupt vermeiden? Mit der Erinnerung an die Rezeptionsgeschichte von Einsteins Theorien beschleichen den einen oder anderen auch angesichts der gegenwärtigen Debatten über Gentechnik und Hirnforschung Zweifel.

Ob man neue Entdeckungen der Naturwissenschaft als Grundlage eines modernen Menschenbilds bejubelt oder als Ursache für den Verfall der Zivilisation verdammt: in beiden Fällen begibt man sich auf unwissenschaftliches Terrain. Für Könneker gibt es einen nahtlosen Übergang von der Rezeption der neuen Physik im schriftstellerischen Werk von Robert Musil oder Hermann Broch zu den Hassschriften der "Deutschen Physiker", die Einsteins Theorien für falsch hielten.

"Alles ist relativ und nichts ist gewiß" war die vulgäre Zusammenfassung der neuen Erkenntnis durch Relativitätstheorie und Quantenmechanik, die bei Befürwortern und Gegnern gleichermaßen verbreitet war. "Im Laufe des letzten Jahres ist auch in weiten Kreisen zum Bewußtsein gekommen, daß wir geistig ebenso wie politisch eine Katastrophe durchleben. ... In unserem Geistesleben bemerkt man diesen Umschwung gegenwärtig am meisten durch die vielbesprochenen Relativitätstheorien. ... Sie bezeichnen den Abschluß, die Auflösung, Zersetzung, den ,Untergang des Abendlandes', insofern sie alle absoluten Standpunkte, alle Voraussetzungen, in denen unser bisheriges Schaffen seinen Naivitätsgrund hatte, zerstören." meinte man 1920 in der Rheinisch-Westfälischen Zeitung .

Aus dem Versuch, unser Erfahrung der Welt in einer Formel mit mathematischer Genauigkeit zu beschreiben, ist über den Weg der weltanschaulichen Metapher eine Kraft geworden, sie zu zerstören. Und auch der Sinn von Wissenschaft geht verloren, wenn sie nicht mehr der Ort unseres besten Wissens sind, sondern ein Schlachtfeld der Ideologie.

Selbst bei den Hopi-Indianern war Albert Einstein so berühmt, dass sie ihn 1931 in ihren Stamm aufnahmen. Nicht seine Erkenntnisse verbreiteten sich so rasch in der ganzen Welt, sondern die Bilder, die sich die Menschen davon machten. Dass das Volk seine Relativitätstheorie falsch verstand, nutzten die Nazis für ihre Zwecke.

© SZ vom 02.04.2002 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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