Mythenforscherin :Lernen von Asterix

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Stephanie Wodianka lehrt Französische und Italienische Literaturwissenschaft an der Universität Rostock. Sie leitete dort unter anderem ein DFG-Projekt, aus dem das "Metzler Lexikon moderner Mythen" (2014) hervorging. (Foto: Privat)

Die Romanistin Stephanie Wodianka ist überzeugt, dass auch die Menschen der Moderne Mythen brauchen.

Interview von Christian Weber

SZ: Sie haben mit Ihrer Mitarbeiterin Juliane Ebert ein Lexikon moderner Mythen verfasst. In dem finden sich auch Einträge über Helmut Kohl, Harry Potter und Asterix. Kann man diese Personen und Figuren tatsächlich mit den mythischen Helden der klassischen Antike über einen Kamm scheren?

Stephanie Wodianka: Moderne Mythen sind zwar nicht dasselbe wie antike Mythen. Sie haben längst nicht die zeitliche Tiefe und sie sind an den Kontext der Moderne gebunden. Aber es wäre naiv anzunehmen, dass ein bestimmtes kulturelles Phänomen nur in einer Epoche entstehen kann. Und im Grunde funktionieren moderne Mythe ganz ähnlich wie ihre antiken Vorbilder: Es sind Erzählungen, die Sinn und Identität stiften, sie stehen für Werte und Normen, die ein kollektives Selbstverständnis begründen. Moderne Mythen sind genau wie ihre wie antiken Vorbilder Mittel der Weltdeutung.

Welche Deutung liefern Asterix der Gallier und seine Kameraden aus dem kleinen Dorf in der Normandie?

Die Geschichte von Asterix ist eng vernetzt mit den Mythen um die französische Nationalheldin Jeanne d'Arc und die Résistance im Zweiten Weltkrieg. Nicht umsonst erinnern die Römer in dem Comic mit ihrer Uniform, ihrer Obrigkeitshörigkeit und Grußformel an die Nazis. Asterix zeigt gemeinsam mit seinem Freund Obelix und mit ihrem letzten gallischen Dorf Widerstand.

Nun haben Asterix und Obelix Strategien der Konfliktbewältigung, die in unserer Gegenwart schwer vermittelbar sind.

Man muss das natürlich im übertragenen Sinne verstehen. Asterix und Obelix stehen für den Widerstand gegen scheinbar Übermächtiges, für Gewitztheit und Esprit sowie gegen Konformismus jeglicher Art. Ihre Abenteuer zeugen von einer gewissen Leichtigkeit in schweren Zeiten, in Text und Bild.

Brauchen Mythen Bilder?

Sie helfen zumindest bei der Entstehung. Zum Mythos vom deutschen Wirtschaftswunder in der Nachkriegszeit gehören die Fotos und Wochenschau-Filme von den skelettartigen Ruinen der Großstädte und den Trümmerfrauen, aber auch von dem wohlgenährten Ludwig Erhard und von dem Tag, als der millionste VW-Käfer vom Band rollt. Ohne diese Bilder wäre dieser Mythos deutlich weniger präsent.

Wie entsteht ein neuer Mythos?

Prinzipiell kann alles zum Mythos werden: Ereignisse, historische Figuren, Institutionen, sogar Konzepte wie "Fortschritt" und Orte wie die Alpen. Wichtig ist, dass ein neuer Mythos an die bestehenden anknüpfen kann, so wie eben Asterix. Dabei ist es schwer vorherzusagen, welche mythischen Erzählungen sich als haltbar erweisen werden. Wir hatten zum Beispiel überlegt, ob wir Osama bin Laden in unsere Liste aufnehmen. Er war zum Zeitpunkt unserer Arbeit immerhin der meistgesuchte Terrorist der Welt und war Teil des Mythos von der "Achse des Bösen". Aber letztlich geht er im kulturell bekannten Muster des "Schurken" auf. Mittlerweile ist er aus dem kollektiven Gedächtnis schon fast wieder verschwunden.

Warum denn wohl?

Vielleicht weil er zu eindeutig nur Bösewicht war? Ein Mythos birgt Widersprüchlichkeiten in sich, die er zugleich in seinen Erzählungen bändigt. Der Reiz zum Widerspruch befördert seine Aktualisierbarkeit und Lebendigkeit. Ein eindeutiger Sachverhalt ist schnell auserzählt. Jeanne d'Arc zum Beispiel ist eine Nationalheilige, die für religiöse Werte steht, zugleich aber auch eine blutrünstige Vaterlandskämpferin, sie ist keusche Jungfrau und wilde Amazone. So kann sie immer wieder neu entdeckt werden und Identifikationsfigur für viele sein. Sie kann für die Emanzipation der Frauen stehen, aber auch für den rechtsnationalistischen Front National in Frankreich.

Kann sich ein Mythos auflösen, etwa weil eine historische Figur entzaubert wird? Der vermeintlich heldenhafte Freiheitskämpfer Che Guevara etwa wird doch mittlerweile von vielen Zeitgeschichtlern eher als skrupelloser und brutaler Politiker gesehen.

Solche Kritik und innere Widersprüchlichkeit hält ihn vielleicht sogar umso lebendiger. Mythen sterben durch ihre "Widerlegung" nicht unbedingt, bedroht sind sie nur vom Vergessen, wenn sie kulturell funktionslos werden. Und im Gedächtnis bleiben sie insbesondere, wenn sie gut vernetzt sind - dann begründen sie "belief systems", die sie stabiler machen.

Und es gibt dieses großartige Jesus-Poster v on ihm, das man sich im Alter von 15 Jahren übers Bett hängt.

Auch am Mythischen hängt eine Art von Glauben.

Auch der Mythos vom Wirtschaftswunder vereinfacht stark.

Klar, die Erzählung vom Wirtschaftswunder vereinfacht komplizierte ökonomische Prozesse und unterschätzt zum Beispiel die internationale Verflechtung der Volkswirtschaften.

Sollten wir uns dann nicht darum bemühen, uns solcher Mythen zu entledigen? Sie verdunkeln die Wahrheit.

Der Mythos soll ja nicht die Geschichtsschreibung ersetzen, aber er ist auch keine Lüge. Es gibt bei ihm kein falsch oder richtig. Der Mythos wirkt in der Wirklichkeit. Das ist wichtig. So hat der Mythos vom Wirtschaftswunder damals den Glauben an die individuelle Handlungsmächtigkeit gestärkt. Er hat dazu beigetragen, dass die Menschen bereits in den 1950er-Jahren wieder dachten: Ich kann ja was tun, das Individuum geht nicht in der Masse auf. Die zweifelhafte Kehrseite war der die Geschichte verdrängende Gedanke: "Wir sind wieder wer."

Ist so ein kollektiver Selbstbetrug nicht ein bisschen unwürdig?

Nun, vielleicht braucht der Mensch einfach Weltdeutungsbrillen, die ihm Orientierung geben. Er braucht kulturelle Praktiken der Vereinfachung, um in der Komplexität der Welt zu bestehen. Das ist ähnlich wichtig wie die Fähigkeit zum Vergessen. Abgesehen davon: Die Mythen sind einfach da, wir können sie gar nicht mal eben abschaffen.

Also muss man mit ihnen leben?

Nun, man kann schon gute und schlechte Sachen mit ihnen machen. Wichtig wäre es, dass man darauf achtet, inwiefern Mythen politisch funktionalisiert werden, etwa in der Flüchtlingsdebatte.

© SZ vom 23.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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