Medizin:Mit allen Sinnen

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"Der Nächste, bitte!" Das klingt in Angelika Meiers Roman gar nicht gut. Es klingt nach Opium-Rhabarbersaft oder Beschallung mit der eigenen Stimme. (Foto: Sebastian Kahnert/dpa)

Die Heilkunde entdeckt den Wert künstlerischer und handwerklicher Fertigkeiten. Aber kann das gut gehen? Die Sehnsucht nach Interdisziplinarität zeigt das Dilemma eines Fachs, das sich ständig selbst überfordert.

Von Werner Bartens

Und als die Zeit kam, dass sie gebären sollte, ging die Frau in Berlin ins Krankenhaus. Es war später Vormittag, kurz vor halb zwölf, und weder die Ärzte noch die Hebammen glaubten, was die Schwangere ihnen sagte. Immerhin kündigte sie an, dass ihr Kind schon ziemlich bald, nämlich um drei Uhr nachmittags auf die Welt kommen würde. In weniger als vier Stunden? Undenkbar - das sprach jeder Erfahrung der Geburtshelfer in der großen Klinik Hohn. Und medizinisch erschien es nahezu unmöglich, denn der Muttermund war ja noch kaum geöffnet. So schnell kommen Babys nun auch nicht zur Welt.

Die Schwangere wurde beruhigt, kam in ein kleines Zimmer, um sich auszuruhen. Sie wurde von den Geburtshelfern wenig beachtet, es gab schließlich dringendere Fälle in der Klinik. Gegen 14 Uhr wurde die Schwangere unruhig, kurz darauf schrie sie sogar um Hilfe. Erst hatte die Hebamme nur einen abschätzigen Blick für sie übrig, denn was sollte jetzt schon mit ihr sein? Dann ging alles plötzlich ganz schnell. Hektik brach aus, um ein Haar hätte es Komplikationen gegeben. Um kurz vor drei erblickte ein gesundes Mädchen das Licht der Welt.

Kleine Zwischenfrage: Hätte ein Arzt, der in seinem vorherigen Leben als Dirigent oder Komponist tätig war, auf jeden Fall aber jemand, der viel mit Musik zu tun hat, einfühlsamer und mit mehr Taktgefühl auf die Schwangere reagiert und ihren rasanten Geburtsfortschritt schneller erkannt? Wer ein Gespür hat für die Zyklen und Rhythmen und notwendigen Pausen, schlicht für den richtigen Takt, der hätte doch womöglich spüren können, welche Schwingungen die Menschen beeinflussen, die ihm anvertraut werden. Wozu gibt es denn bitte sonst überall diese Ärzte-Orchester?

Und was ist mit den Fähigkeiten von Harold Lyon, den alle nur Hal nennen? Hal hat nicht nur die legendäre Westpoint-Militärakademie absolviert und ist ein passionierter Fliegenfischer, sondern er war einst auch Sieger im Landeswettbewerb von New Hampshire, als es darum ging, besonders überzeugend den Lockruf des Truthahns zu imitieren. Ach ja, an der Erfindung der "Sesamstraße" war Hal auch beteiligt. Dieser berückend vielseitig talentierte Mann also, Gesundheitswissenschaftler und Psychologe, der auch im Alter von 83 Jahren gelegentlich noch Lehrveranstaltungen an der Dartmouth Medical School und der Universität München für eine bessere Medizinerausbildung hält, ist dieser originelle Kopf nicht besonders gut dafür geeignet, ein fähiger Arzt zu sein und die Bedürfnisse der Patienten besser zu erkennen als andere?

"Ich bin sofort dafür, mehr zu erspüren, mehr zu erfassen und mehr zu erleben und das auch in die Ausbildung künftiger Ärzte zu integrieren", sagt Martin Fischer, der an der Ludwig-Maximilians-Universität München einen der deutschlandweit ersten Lehrstühle für Medizindidaktik innehat. "Es ist immer gut, nicht nur zu wissen, sondern auch zu machen und zu erfahren." Und tatsächlich entdeckt die Medizin in Zeiten, in denen sich alles auf technische Innovationen, die digitale Zukunft, Großgeräte und Laboranalysen zu konzentrieren scheint, die Kraft der Sinne und die Sinnlichkeit wieder - und die Bedeutung des Handwerks.

In der besten aller Welten kann der Arzt nicht nur Medizin, sondern auch Geige spielen, Aquarelle malen und fünf Sprachen sprechen

Die Insignien des ärztlichen Standes spiegelten das Sinnliche im Beruf des Mediziners schon immer wider. Bis weit in die Neuzeit hinein war das Harnglas das typische Attribut des Arztes. An Aussehen, Geschmack und Geruch des Urins, also unter Zuhilfenahme diverser Sinne, konnte der Heilkundige schon im Mittelalter etliche Krankheiten erkennen. So geht Diabetes mellitus - der Name bedeutet wörtlich "honigsüßer Durchfluss" - auf umfangreiche Geschmackserfahrungen früherer Ärztegenerationen zurück. Eine sensorische Harnprobe als Diagnosehilfe? Für heutige Mediziner undenkbar.

Die Sinne blieben auch später das entscheidende Hilfsmittel des Arztes. Mit der Erfindung des Stethoskops durch René Laënnec 1816 wurde das Hörrohr das wichtigste Instrument für den Arzt, der seinen Patienten während der körperlichen Untersuchung eben nicht nur abklopfte, sondern auch abhörte, am ganzen Körper berührte und in ihn hinein lauschte; ein inniger Teil der Arzt-Patienten-Beziehung.

Und heute? Da sehen etliche Patienten zuerst den Röntgenapparat oder die Kernspinröhre, bevor sie dem Doktor die Hand geben - und der schaut dann zum Kummer vieler Patienten während des Gesprächs vor allem auf seinen Bildschirm anstatt ins Gesicht oder auf den Körper der Kranken. Täte da nicht eine umfangreiche Schulung der Sinne, etwa durch eine schöpferische, künstlerische, handwerkliche und damit ganzheitlichere Ausbildung jedem Arzt gut?

Im Freizeitverhalten der Ärzte zeigt sich das längst. Kaum eine Profession macht soviel Gewese um ihre Nebentätigkeiten und prahlt mit Fertigkeiten an der Harfe, als Staudengärtner oder Aquarellist; bei passender Gelegenheit werden noch Benn-Gedichte zitiert. Aber lassen sich die vielseitigen Interessen und Talente der Doktoren nicht auch professionell besser nutzen?

So viel ist bekannt: Für biochemische Versuche und klinische Studien bewährt es sich unbedingt, auf ausgedehnte Erfahrungen in der Küche zurückblicken zu können und Freude am Experimentieren zu haben. "Kochen unterscheidet sich nicht groß von der Laborarbeit, es gibt nur andere Inkubationszeiten", sagt Hormonexperte Felix Beuschlein vom Universitätsspital Zürich, der viel Zeit im Labor verbringt, aber auch ein ambitionierter Hobbykoch ist. "Man folgt einem Protokoll, und wenn etwas nicht schmeckt, muss man eben andere Varianten ausprobieren, um Erfolg zu haben. Zudem darf man sich nicht entmutigen lassen."

Ebenso wie es nach mehreren Rückschlägen beim zusammengefallenen Soufflé aus lauter Frustration nicht immer nur Rührei geben sollte, zeigt sich der gewiefte Laborforscher darin, dass er die Versuchsbedingungen so lange verändert und optimiert, bis das Experiment eben doch irgendwann gelingt.

Jozef Youssef, eine Art gastronomischer Vordenker, der in London das experimentelle Restaurant "Kitchen Theory" gegründet hat und zugleich einen Think Tank für Kulinarik aufbauen will, betont die Systematik hinter beiden Vorgängen: Im Labor wie in der Küche spielt das "Mise en Place" eine wichtige Rolle, das heißt die Vorbereitung der Zutaten und die richtige Anordnung der Küchengeräte oder eben Laborinstrumente.

Doch der Nutzen ist nicht nur für Versuche in medizinischen oder chemischen Laboratorien naheliegend. Ärzte und Forscher, die selbst gerne kochen, ernähren sich auch gesundheitsbewusster und sind besser in der Lage, Patienten Ernährungstipps überzeugend nahezubringen, wie mehrere Studien gezeigt haben.

Natürlich braucht es gerade in den operativen Fächern eine geschickte Hand, um in der Medizin erfolgreich zu sein, aber viele Tätigkeiten lassen sich eben auch von anderen Fächern abschauen. So lobte Roger Kneebone, Unfallchirurg am Imperial College in London, denn auch kürzlich im Fachmagazin Nature die Kooperation verschiedener Disziplinen, die man auf den ersten Blick nicht unbedingt zusammenbringen würde: So können Steinmetze und Holzschnitzer ihr Arbeitsmaterial durch Befühlen und Beklopfen so gründlich durchschauen, dass sie spüren, ob ein Stein oder ein Stück Holz noch lange halten wird oder ob es bereits so porös ist, dass es bald bricht.

Maßschneider, Steinmetze, Dirigenten - von allen diesen Berufen könnten Ärzte profitieren. Doch warum nicht eine Sache richtig machen?

Die gleiche Fähigkeit wäre natürlich auch für Orthopäden hilfreich. Merken sie den Knochen an, ob sie noch eine Weile halten werden oder bei nächster Gelegenheit eine Fraktur droht, könnte das beim Einsatz einer neuen Hüftprothese ebenso nützlich für Patienten sein und sie vor Komplikationen bewahren wie in anderen Bereichen der Chirurgie und Traumatologie. Schon bald sollen Chirurgen in der Ausbildung mit Steinmetzen zusammenarbeiten, um frühzeitig zu erkennen, wenn das Material ermüdet - und sich nebenbei in dreidimensionaler Arbeit üben.

Dass Töpfer neben handwerklichem auch gestalterisches Geschick mitbringen müssen, liegt buchstäblich auf der Hand. Aber ist die Anfertigung eines Gipses nicht ebenso eine modellierende Tätigkeit, auch wenn daraus nicht zwangsläufig ein Kunstwerk werden muss? Und können Mediziner, die invasiv tätig sind, nicht durch die Anleitung und das Vorbild von Schneidern besser "begreifen", wie sich unterschiedliche Gewebeschichten anfühlen und wie es ist, sich Lage für Lage vorzutasten, ohne genau zu sehen, wo man gerade ist?

Der aufs Auge spezialisierte Anästhesist Friedrich Lersch vom Inselspital der Universität Bern beschreibt anschaulich, wie sehr ihn ein Film über den beruflichen Stolz und die Fertigkeiten einer älteren Generation von Maßschneidern in Neapel beeindruckt hat. Auch Lersch muss für seine Arbeit gleichsam mit den Fingern "sehen" und so die optimale Lage ertasten, um auf kleinem Raum eine Injektion an der richtigen Stelle zu setzen. Bevor er sich der Medizin zuwandte, hat Lersch im Alter von 15 bis 18 Jahren selbst eine Schneiderlehre absolviert, die ihm womöglich jetzt hilft, die subtilen Signale des Gewebes besser zu erkennen und hinter das Offensichtliche zu schauen. "Was ist dieser Anzug wohl wert?", fragt ein betagter neapolitanischer Herrenschneider im besagten Film. "Da ist so vieles verborgen in dem Gewebe, aber das wissen die meisten nicht." Man muss es fühlen.

In einem kürzlich von Kneebone veranstalteten Symposium fanden sich noch weitere Konstellationen, in denen sich die Berufe bestens zu ergänzen schienen: Zahnärzte tauschten sich eifrig mit Tier-Präparatoren und Konservatoren über die besten Techniken zur Erhaltung brüchiger Materialien aus. Schriftsetzer, Buchdrucker und Handchirurgen entdeckten zahlreiche Übereinstimmungen im Gebrauch und Aufbau ihrer Werkzeuge und diskutierten die idealen Eigenschaften von Meißeln und Feilen.

Man mag vor Freude jubilieren über dieses Feuerwerk an Interdisziplinarität und die nicht enden wollenden Synergie-Effekte. "Manchmal gehen mir diese teilweise an den Haaren herbeigezogenen Vergleiche auf die Nerven", sagt hingegen Medizindidaktiker Fischer. "Die Medizin überschätzt sich gerne: Einerseits betont sie, wie voll das Fach bereits ist und dass sich das Wissen alle paar Jahre verdoppelt - andererseits soll der ideale Arzt Geige spielen, bildhauerisch tätig sein und fünf Sprachen sprechen."

Natürlich können Töpfer, Dirigenten, Steinmetze oder Schneider der Medizin Impulse geben, das gibt Fischer gerne zu. Aber hat man schon von Physikern oder Theologen gehört, dass sie sich unbedingt in Öl verwirklichen oder batiken müssen? "Andere Disziplinen versuchen nur eines gut zu machen, nämlich ihr Fach", sagt Fischer. Vielleicht liegt das Bedürfnis vieler Ärzte nach Ergänzung daran, dass die Medizin so ein komisches Fach ist, schwer zu definieren. Eine Naturwissenschaft ist die Medizin keineswegs, als angewandte Wissenschaft geht sie auch nicht durch - eher als Sammelbecken verschiedener Ansätze, verbunden mit der irren Sozialutopie, dass einer den anderen gesund mache.

Um die Medizin besser zu verstehen, bräuchte es nun wieder mehr Kenntnisse der Human- und Geisteswissenschaften, der Philosophie und diverser Denkschulen. Hoppla, da ist bereits die nächste Aufgabe für den von lauter externen Anregungen schon ganz erschöpften Doktor, sich auch hier notwendige Kenntnisse und interdisziplinäres Wissen anzueignen!

© SZ vom 24.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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