Medizin:Der Preis der Aufklärung

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Immer wieder kommt es vor, dass Patienten aufgrund kritischer Medizin-Berichte Therapien abbrechen oder Medikamente absetzen. Manche bringen sich dadurch sogar in Lebensgefahr. Wäre es deshalb besser, Probleme zu verschweigen?

Von Werner Bartens

Vor Missverständnissen kann sich niemand schützen. Das ist die Nebenwirkung der Aufklärung. Gerade in der Medizin kommt es immer wieder vor, dass Patienten nach Berichten über unterschätzte Risiken plötzlich Arzneimittel, Untersuchungen oder Operationen in Bausch und Bogen verdammen und ihre Medikamente absetzen oder einen chirurgischen Eingriff ablehnen. Ärzte aus London und Manchester zeigen im British Medical Journal von dieser Woche, welche Folgen es haben kann, wenn Vor- und Nachteile einer Therapie nicht nur in der Fachwelt, sondern auch in den Medien diskutiert werden.

Kritische Artikel verunsichern Patienten. Aber ist es besser, Probleme zu verschweigen?

Das Team um den Epidemiologen Anthony Matthews hat den Medikamentenkonsum am Beispiel der Statine analysiert. Die populären Fettsenker sind nützlich für die Sekundärprävention, das heißt sie verringern die Zahl der Todesfälle und weiteren Herzinfarkte bei Patienten, die bereits einen Herzinfarkt erlitten haben. In der Primärprävention wird ihr Nutzen jedoch kontrovers beurteilt. Manche Forscher bezweifeln, dass Statine überhaupt erstmalig Infarkt und Schlaganfall zuverlässig verhindern können. In der Mehrzahl der Fachbeiträge geht es allerdings darum, wie hoch der aus familiärer Vorbelastung, Bluthochdruck, Übergewicht, erhöhten Fettwerten, Nikotinkonsum und Bewegungsmangel errechnete Risiko-Index sein sollte, um eine medikamentöse Therapie zu rechtfertigen.

Nachdem im Herbst 2013 zwei kritische Fachartikel über Statine im British Medical Journal erschienen waren und besonders der Nutzen für Patienten mit geringem Risiko bezweifelt wurde, setzte bis zum Frühjahr 2014 eine umfangreiche Berichterstattung in britischen Medien ein. In diesem Zeitraum begannen zwar genauso viele Patienten wie zuvor, die Medikamente erstmalig einzunehmen. Von jenen, die bereits Statine schluckten, setzten jedoch elf Prozent die Mittel zur Primärprävention ab. Zur Sekundärprävention wollten sogar zwölf Prozent die Fettsenker nicht mehr nehmen. Hochgerechnet auf das Vereinigte Königreich kommen die Forscher zu der Schätzung, dass mehr als 200 000 Briten ihre Statine abgesetzt haben könnten. In den kommenden zehn Jahren wären 2173 zusätzliche Todesfälle durch einen Infarkt oder Schlaganfall die Folge. Verweigern die Patienten dauerhaft die Tabletten, rechnen die Forscher sogar mit 6372 zusätzlichen Todesfällen.

"Wenn Medien ausführlich über Gesundheitsthemen berichten, kann sich das erheblich auf das Verhalten von Patienten wie Ärzten auswirken und das Befinden der Menschen beeinflussen", sagt Liam Smeeth, der ebenfalls an der Studie beteiligt war. "Im Fall der Statine könnten die Nebenwirkungen überbetont und das Vertrauen in ein Medikament zerstört worden sein, das viele Ärzte für wirksam und sicher halten."

Der Psychologe Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin hat bereits vor Jahren gezeigt, wie Warnungen vor Thrombosen durch eine neue Pillengeneration 1995 in Großbritannien dazu geführt haben, dass Tausende Frauen die Pille absetzten. Dadurch kam es zu vielen ungeplanten Schwangerschaften und 13 000 zusätzlichen Schwangerschaftsabbrüchen, was das Thromboserisiko weit mehr erhöhte als jenes durch die Pille. Konservative Ärzte fordern daher gerne in einer Art Wagenburgmentalität, kritische Berichte über die Medizin zu unterlassen, weil Patienten dadurch verunsichert würden. Auf diesen Vorwurf pflegte Peter Sawicki, der langjährige Chef des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, zu entgegnen: "Besser verunsichern als falsche Gewissheiten zementieren."

Der Gesundheitswissenschaftler Gary Schwitzer schreibt in einem Kommentar, "dass es zu begrüßen ist, wenn Medienberichte zu neuen Fragen von Patienten führen oder die Wünsche und Vorlieben im Arzt-Patienten-Gespräch deutlicher werden". Und Fiona Godlee, meinungsstarke Chefredakteurin des British Medical Journal, findet es "absolut richtig, dass es öffentliche Debatten um Vor- und Nachteile einer Behandlung gibt".

Patienten würde dadurch Verschiedenes klar werden: "Erstens haben wir viel weniger gesicherte Daten über die Nebenwirkungen von Statinen als über ihren Nutzen. Zweitens mag der Nutzen gerade für Patienten mit niedrigem Risiko so gering sein, dass er den Schaden nicht überwiegt, sodass es nicht gerechtfertigt ist, jeden Tag ein Medikament zu schlucken. Und drittens sind die Studiendaten noch immer nicht komplett zugänglich für unabhängige Bewertungen. So etwas schockiert die Menschen. Mich schockiert es noch immer."

© SZ vom 30.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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