Florian Wittmann kann den Regenwald von Oberbayern aus untersuchen. Will der Geograf allerdings an den Ort gelangen, an dem seine Messungen gemacht werden, muss er ins Amazonasgebiet reisen. Vom letzten Dorf aus sind es dann noch 15 Kilometer mit dem Allradgeländewagen, 65 Kilometer mit dem Boot und schließlich noch 35 Kilometer mit einem Jeep bis zur Messstation mitten im brasilianischen Regenwald. Dann erst hat Wittmann den Atto-Turm erreicht, das Amazonian Tall Tower Observatory. Derzeit laufen letzte Arbeiten an der Elektronik des 325 Meter hohen Messturms der Max-Planck-Gesellschaft und des brasilianischen Instituts für Amazonasforschung. Ende des Jahres sollen die ersten Messungen beginnen. Mit dem rot-weißen Turm, der weit über die Baumkronen hinausragt, wollen die Forscher unter anderem verstehen, wie es um die Lunge des Planeten bestellt ist: Wie viel CO₂ nimmt der Wald auf, wie funktionieren die Wechselwirkungen mit der Atmosphäre?
Forscher, die den Atto-Turm besuchen, schlafen direkt an der Messstelle in einem Schlafsaal mit Hängematten - mitten im Urwald. Steht nicht gerade eine größere Messaktion an, bei der schon mal bis zu 30 Forscher da sind, reichen ein bis zwei Wissenschaftler aus, um Atto und seinen nur 80 Meter hohen Schwesterturm zu betreuen, der schon seit 2010 in Betrieb ist. Im Wald sind die Forscher von aller Zivilisation abgeschnitten: Die nächste Siedlung liegt mehr als 100 Kilometer entfernt. Um die Ergebnisse "sauber" zu halten und nicht durch menschengemachte Emissionen zu verfälschen, ist das dringend notwendig.
"Wir untersuchen unter anderem, wie viel CO₂ bei der Abholzung des Amazonas frei wird und umgekehrt, welche Mengen an CO₂ die Ökosysteme des Urwaldes speichern", sagt Florian Wittmann. Mit den Messungen des kleinen Turmes können die Wissenschaftler lediglich die lokale Umgebung abdecken. Der große Turm soll dagegen ein Gebiet im Umkreis von mehreren Hundert Kilometern erfassen. Messinstrumente und "Ansaugleitungen" für Treibhausgase werden in verschiedenen Höhen installiert. Die Forscher ziehen sich dann Luftproben in den Laborcontainer, um sie dort näher zu untersuchen.
Ob Aufforstungen wirklich gut für das Klima sind, ist umstritten
Die Ergebnisse solcher Versuche können bares Geld bedeuten. Etwa für die Regierungen waldreicher Länder wie dem Kongo oder Brasilien: In internationalen Abkommen wie dem Weltklimavertrag ist vorgesehen, dass Länder sich den Erhalt ihrer Wälder anrechnen lassen können oder sogar dafür bezahlt werden, den Wald nicht abzuholzen. Die Messungen des Atto-Turms helfen dabei zu berechnen, wie viel ein Waldgebiet im Sinne des Klimaschutzes wert ist. Die Fähigkeit, CO₂ zu speichern, ist nämlich von Wald zu Wald sehr unterschiedlich.
Pauschale Kalkulationen würden die Klimawirkung oft über- oder unterschätzen, meint Wittmann. Die Erfahrungen, die er in den vergangenen sechs Jahren mit dem Amazonaswald gemacht hat, haben seine Skepsis für schnelle Lösungen im Klimaschutz vergrößert. "Es macht einen erheblichen Unterschied für die CO₂-Speicherung, ob es sich um einen natürlichen Wald oder eine junge Aufforstung handelt", sagt er. Ein Amazonas-Wald speichert durchschnittlich 250 Tonnen Kohlenstoff pro Hektar allein in den Pflanzen - die Böden nicht eingerechnet. "In einem jungen Wald oder einer Plantage sind es nur 30 bis 40 Tonnen", sagt der Forscher.
Gerade mit Plantagen wird aber häufig viel Geld verdient. Am Victoriasee im Süden Ugandas zum Beispiel stehen gigantische Kiefernwälder, die dem norwegischen Unternehmen Green Resources gehören. Nach einer komplizierten Berechnungsformel soll die Plantage der Atmosphäre von 2007 bis 2026 mehr als eine Million Tonnen CO₂ entziehen. Jede Tonne Kohlendioxid kann die Firma auf dem globalen Markt handeln. Zusätzliches Geld verdient Green Resources, indem die Firma aus dem Holz der Plantage Strommasten für Uganda produziert sowie Holzlatten und Balken für den Export. Vor allem in Entwicklungsländern sind in den vergangenen zehn Jahren Tausende Hektar solcher Waldmonokulturen entstanden.