"Hochrisiko-Substanz":Londoner Test fand angeblich zu früh statt

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Das neue Medikament, an dem sechs britische Versuchspersonen schwer erkrankt waren, sei noch nicht reif für die Erprobung am Menschen gewesen, sagen niederländische Forscher.

Christina Berndt

Es war einer der furchtbarsten Arzneimitteltests der vergangenen Jahrzehnte: Das Medikament TGN1412 der Würzburger Biotechfirma Tegenero sollte eigentlich eines Tages gegen Krankheiten wie Rheuma und Multiple Sklerose helfen.

Doch sechs jungen Männern, denen es im März als ersten Menschen gespritzt wurde, brachte es fast den Tod.

Die Substanz stachelte in ihrem Körper die Immunzellen derart an, dass sie die inneren Organe angriffen.

Die schrecklichen Folgen hätten sich zuvor bereits angekündigt, sagen jetzt zwei Fachleute vom niederländischen Zentralkomitee für Forschung an Menschen, kurz CCMO ( Lancet, Bd. 368, S. 1389, 2006).

Sie erheben schwere Vorwürfe gegen Tegenero - anders als die britische Aufsichtsbehörde: Die hatte der Firma bescheinigt, dass die Ereignisse unvorhersehbar waren und der Test ordnungsgemäß vorbereitet worden sei.

Genau das glauben Marcel Kenter und Adam Cohen vom CCMO nicht. Zweifellos seien Eingriffe in das Immunsystem, wie auch die TGN1412-Spritze einer war, immer risikobehaftet, schreiben sie.

Einige besondere Warnhinweise seien bei TGN1412 aber schon im Vorfeld zu erkennen gewesen.

So habe es klinische Studien mit Substanzen gegeben, die mit ähnlichen Molekülen reagieren wie TGN1412. Der Würzburger Antikörper bindet sich an eine Struktur namens CD28 auf Immunzellen; andere Antikörper reagieren dagegen mit dem CTLA-4-Rezeptor.

Warnungen nicht beachtet?

"Dieser zwar etwas andere, aber verwandte Mechanismus wird zur Zeit bei Krebspatienten getestet", so Kenter und Cohen. "Dort verursacht er schwere Nebenwirkungen" - unter anderem durch eine überschießende Aktivierung des Immunsystems, wie sie offenbar auch TGN1412 ausgelöst hat.

Noch eine Warnung hätte beachtet werden müssen, so die Niederländer: Mäusen, die künstlich mit einem menschlichen Immunsystem ausgestattet worden waren, erging es nämlich gar nicht gut, als sie mit einem TGN1412-Vorläufer behandelt wurden.

"Aber diese Daten wurden nie in die Unterlagen aufgenommen", kritisieren Kenter und Cohen das Verhalten der Firma Tegenero, deren Vertreter am Donnerstag nicht für eine Stellungnahme zu erreichen waren. Die Firma hat inzwischen Insolvenz angemeldet.

Das Fazit der beiden Experten für Studien an Menschen ist jedenfalls eindeutig: Als in London der verhängnisvolle Versuch begann, sei TGN1412 eine "Hochrisiko-Substanz" gewesen und noch nicht reif für die Erprobung am Menschen. Kenter und Cohen kreiden Tegenero auch an, dass die Firma bis heute wichtige Daten nicht veröffentlicht hat, aus denen unabhängige Institutionen lernen könnten.

© SZ vom 13.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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