HIV-Epidemie:"Im Kampf gegen Aids versagt"

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Die Rate der HIV-Infektionen steigt in Osteuropa und Zentralasien so dramatisch wie nirgendwo sonst, warnt Unicef. Vor allem Kinder und Jugendliche sind betroffen.

In Osteuropa und Zentralasien breitet sich nach Einschätzung vonUnicef mit rasantem Tempo eine verdeckte Aids-Epidemie vor allem unter Kindern und Jugendlichen aus.

Ein mit HIV infiziertes Kind in einer Klinik in Chisinau in Moldawien. In Osteuropa und Zentralasien breitet sich Aids mit rasantem Tempo aus - vor allem unter Kindern und Jugendlichen, warnt Unicef. (Foto: dpa)

Wie aus einem Bericht des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen hervorgeht, steigt nirgendwo auf der Welt die Rate der HIV-Infektionen so dramatisch wie in dieser Region. Die UN schätzten die Zahl der HIV-Infizierten dort auf 1,5 Millionen - 2001 waren es 900.000.

Unicef hat das Papier jetzt bei der Weltaidskonferenz in Wien vorgestellt.

"Die Gesundheits- und Kinderschutzsysteme in den 27 Ländern der Region haben im Kampf gegen Aids weitgehend systematisch versagt", warnt die Organisation. In Russland gebe von 2006 bis heute in einigen Gebieten einen Anstieg der Gesamtzahlen um 700 Prozent.

Besonders betroffen in den wirtschaftlich noch schwachen Ländern sind Kinder und Jugendliche, die am Rande der Gesellschaft leben - also Heimkinder, junge Drogenabhängige, Straßenkinder oder minderjährige Prostituierte.

Insgesamt ein Drittel der Neuinfektionen entfallen inzwischen in der gesamten Region auf Jugendliche und junge Erwachsene. 80 Prozent der Infizierten sind jünger als 30 Jahre. Für sie gebe deutlich zu wenig Hilfe, kritisierte das UN-Hilfswerk.

Als "asozial" gebrandmarkt und ausgestoßen

Die infizierten Heranwachsenden und ihre Eltern werden laut Bericht vielmehr als "asozial" gebrandmarkt und ausgestoßen. Der Zugang zu Kindergärten oder Schulen wird ihnen oft verweigert. Infizierte Kinder und Neugeborene von HIV-positiven Müttern werden in Heime abgeschoben - die weiter existierende Heiminfrastruktur aus der Sowjetzeit erleichtere dies. In der Ukraine und in Russland landen sechs von zehn Neugeborenen infizierter Mütter in solchen Heimen.

HIV-infizierte Straßenkinder oder junge Prostituierte werden häufig eingesperrt, statt sie zu beraten und ihnen zu helfen. Die "Tradition von staatlicher Autorität und Kontrolle" lebe weiter.

Häufigster Übertragungsweg sind verseuchte Spritzbestecke. Denn viele Straßenkinder nehmen schon im Alter von zwölf bis 16 Jahren harte Drogen. "Die Gesundheits- und Aufklärungsprogramme erreichen diese Risikogruppen nicht", bilanziert Unicef. Es müsse dringend ein klarer Wechsel im Kampf gegen Aids vollzogen werden.

"Nur wenn die Diskriminierung von HIV-positiven Menschen beendet wird, kann die Ausbreitung der Epidemie in Osteuropa und Zentralasien gestoppt werden", betonte der neue Geschäftsführer von Unicef Deutschland, Christian Schneider. Diese Erkenntnis sei aber bisher kaum verbreitet. Prävention gibt es dem Bericht zufolge vielfach noch gar nicht.

"Als Reaktion auf die Schwäche der Gesundheitssysteme werden sogar vielfach Fakten geleugnet und versteckt", berichtet die UN- Organisation: So meldete Turkmenistan 2008 genau zwei Fälle von HIV- Infektionen, obwohl das Land längst von der Epidemie erfasst ist.

In Kliniken komme es immer wieder zu Infektionen durch infizierte Blutkonserven. Sogar Ärzte und Krankenhauspersonal seien nicht ausreichend informiert, hätten Vorurteile und Ängste im Umgang mit der tödlichen Immunschwäche-Krankheit. Auch in Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan kam es seit 2006 zu Infektionen durch verseuchte Blutkonserven oder unsauberes Klinikbesteck. Zu den von Unicef untersuchten Ländern gehören auch Albanien, Bulgarien, Georgien, Kasachstan, Moldawien, Rumänien, die Türkei oder Weißrussland.

Einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Gefahr der Ansteckung mit HIV und Armut zeigt eine Studie des Zentrums für Seuchenkontrolle und Prävention (CDC) in Atlanta, USA. Wie die Wissenschaftler berichten, spielt Armut sogar die wichtigste Rolle dabei, ob sich ein heterosexueller Großstädter in den USA mit HIV ansteckt.

Die Studie, die ebenfalls auf der Welt-Aids-Konferenz in Wien vorgestellten wurde, zeigt, dass Aids in bestimmten Armenvierteln geradezu grassiert. Und wichtiger noch: Arme Heterosexuelle in diesen Vierteln sind doppelt so infektionsgefährdet wie ihre Nachbarn mit mehr Geld. Die Rasse spielt dagegen keine Rolle: Zwischen Schwarzen, Weißen und Latinos stellten die Wissenschaftler keine großen Unterschiede fest. Die Studie der CDC ist die erste regierungsamtliche Untersuchung dieser Art.

Gesundheitsexperten gehen schon lange davon aus, dass Armut Aids befördert, doch gab es wenig wissenschaftliche Belege dafür. Manche Forschungsergebnisse scheinen dem sogar zu widersprechen: Studien in Tansania, Kenia und anderen afrikanischen Ländern zufolge bestand bei Wohlhabenden eine größeres Infektionswahrscheinlichkeit als bei Armen.

"In den USA haben wir uns lange nicht eingehend mit dem Zusammenhang zwischen Armut und HIV beschäftigt", räumte der Direktor der Aids-Prävention am CDC, Jonathan Mermin, ein. Viel häufiger konzentrierten sich die Studien auf die Rasse von HIV-Patienten, ihre sexuelle Orientierung oder darauf, ob sie sich Drogen spritzen.

Nun wurden 2006 und 2007 9000 heterosexuelle Erwachsene von 18 bis 50 Jahren befragt. Sie gaben Auskunft über Einkommen, Kondombenutzung und andere Einzelheiten und machten einen Aids-Test. Die Forscher nahmen Armenviertel in 23 amerikanischen Städten unter die Lupe. Sie konzentrierten sich auf Heterosexuelle, die keine Drogen spritzen - diese Gruppe macht etwa 28 Prozent der HIV-infizierten Amerikaner aus. Schwule oder bisexuelle Männer, die die höchsten Infektionsraten in den USA aufweisen, blieben außen vor.

Das Ergebnis: Bei den Menschen, die mit einem Jahreseinkommen von 10.000 Dollar (rund 7700 Euro) oder weniger unter der offiziellen Armutsgrenze lebten, waren 2,4 Prozent HIV-infiziert.

"Das ist epidemiologisch Pech"

Bei Leuten aus dem selben Viertel oberhalb der Armutsgrenze waren es nur 1,2 Prozent. Beide Raten liegen über dem US-Durchschnitt von 0,45 Prozent.

Das lässt vermuten, dass Einwohner von Armenvierteln eine höhere Ansteckungswahrscheinlichkeit haben, weil sie unter Infizierten leben. Vielleicht hätten mehr Menschen in solchen Vierteln Drogen genommen oder andere riskante Erfahrungen hinter sich, vermutete Mermin. "Das ist epidemiologisch Pech", sagte er. "Wenn ich in einer solchen Gegend wohne und einen neuen Sexualpartner kennenlerne, dann ist das Risiko, dass er HIV hat, größer, als wenn ich wohlhabend bin und in einer anderen Gegend lebe."

Staatliche Stellen müssten die Ausbreitung von Aids in ganz anderem Licht betrachten, forderte der Gesundheitswissenschaftler Carlos del Rio von der Emory University. "Sie reden darüber, ob man die HIV-Fälle in den USA verringern kann. Ich würde fragen: Was können wir tun, um die Armut in den USA zu verringern?"

Er wies darauf hin, dass bestimmte Krankheiten aus genetischen Gründen bei bestimmten Rassen häufiger vorkommen, etwa Sichelzellenanämie bei Schwarzen. Doch gebe es keinen biologischen Grund dafür, dass die Infektionsrate bei Schwarzen acht Mal höher und bei Latinos drei Mal höher ist als bei Weißen.

Die Erklärung liege wahrscheinlich in der Erkenntnis, dass Schwarze häufiger arm seien. Del Rio hat selbst kürzlich in einer kleineren Studie herausgefunden, dass sich 60 Prozent der HIV-Fälle in Atlanta auf eine Region in der Innenstadt konzentrieren, in der überdurchschnittlich viele Schwarze, Drogensüchtige und Arme leben. Schätzungen zufolge sind mehr als eine Million Amerikaner mit dem HI-Virus infiziert. Die Zahl der Neuansteckungen wird auf rund 55.000 jährlich geschätzt.

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