Geologie:Epoche der Menschheit

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Die Zivilisation hat klare Spuren überall in der Natur hinterlassen. Aber sind sie schon so unübersehbar, dass sie für immer im Erdreich ein eigenes Zeitalter markieren werden, das "Anthropozän"?

Von Christopher Schrader

Das neue Zeitalter beginnt in der Küchenschublade. In vielen Haushalten liegen hier Rollen von Aluminium- und Plastikfolie. Die Stücke, die davon abgerissen werden, erfüllen meist relativ kurz ihren Zweck, zum Beispiel im Kühlschrank, dann wandern sie zusammengeknüllt in die Tonne. In Deutschland mit seiner Leidenschaft für die Mülltrennung und -verbrennung kann man sich das kaum vorstellen, aber weltweit landet sehr viel von dem Material schließlich irgendwo in der Umwelt - und nur wenn es gut geht auf einer Müllkippe.

Aluminium und Plastik sind zwei global verfügbare Produkte der technischen Zivilisation, die mithilfe von Rohstoffen aus der Tiefe der Erde hergestellt und mit großem Energieeinsatz - noch mehr Rohstoffe - in eine brauchbare Form gebracht werden. Und dann enden sie in gewaltigen Mengen auf der Oberfläche der Erde: "Wir produzieren so viel Aluminium, dass wir die USA und einen Teil Kanadas damit bedecken könnten", sagt Jan Zalasiewicz von der Universität Leicester. "Und genug Plastik, um die Erde darin einzuwickeln."

Beide Stoffe sind darum ein untrügliches Zeichen unserer Zeit. Nicht nur, weil oft eine unglaubliche Verschwendung mit ihrem Einsatz einhergeht. Sondern weil es sie in früheren Epochen einfach nicht gab. Sollten also Archäologen oder Geologen künftiger Jahrtausende beim Graben auf einer aufgegebenen Müllkippe auf Aluminium oder Kunststoff stoßen, die sich beide lange halten, werden sie wissen, welches Zeitalter sie gerade vor sich haben: die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert, den Anfang des 21. Jahrhunderts, als Menschen diese Folien praktisch fanden - den Beginn des Erdzeitalters Anthropozän.

Seit einem guten Dutzend Jahren diskutieren Wissenschaftler wie Kulturschaffende bereits über diesen Begriff. Er wurde im Jahr 2000 vom Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen vorgeschlagen, der die Auszeichnung einst für seine Rolle bei der Erklärung des Ozonlochs erhielt. Gemeint ist, dass die Menschheit inzwischen derart deutliche Spuren in der Natur hinterlässt, dass sie sich für alle Zukunft in der Abfolge der Gesteinsschichten und Mineralien des Erdbodens finden lassen werden, als klare Zeichen einer eigenen Epoche. So wie heute frühere Massensterben und andere Großereignisse als Zeitenwende gelten und sich im Erdreich nachweisen lassen.

Von den zuständigen Wissenschaftlern allerdings ist der Begriff noch nicht akzeptiert. "Geologen wurde früher geradezu eingeimpft, dass der Mensch in der Erdgeschichte unbedeutend sei", sagt die Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes von der Harvard University, die das Fach einst selbst studiert hat. "Bei uns hieß es: Wenn die Erdgeschichte einem ausgestreckten Arm entspricht, dann kann man die ganze Existenz der Menschheit ausradieren, wenn man einmal mit der Feile an einem Fingernagel entlanggeht."

Offiziell lebt die Menschheit also noch im Holozän, der Zeit nach der letzten Eiszeit, die mit sehr stabilen Verhältnissen die Entwicklung der Zivilisation ermöglicht hat. Die Zeichen mehren sich allerdings, dass die Menschheit die Stabilität ge- oder zerstört hat, vor allem durch ihren Ressourcenhunger und den Klimawandel. "Wo immer wir hingehen, unsere Aerosole waren schon da", sagt der Hamburger Bundestagsabgeordnete Rüdiger Kruse (CDU), der die Diskussion über das Anthropozän auch in der Politik vorantreibt.

Minen wälzen jedes Jahr so viel Erdreich um, dass 32 chinesische Mauern entstehen könnten

Zuständig für die Ausrufung eines neuen Zeitalters ist die Internationale Kommission für Stratigrafie - also für die geowissenschaftliche Analyse der Erdzeitalter anhand von Gesteinsschichten. Sie hat eine 30-köpfige Arbeitsgruppe beauftragt, die Frage nach dem Anthropozän zu prüfen. Diese arbeitet seit 2009, sagt ihr Leiter, der englische Geologe Zalasiewicz, vor allem durch digitale Kanäle und Kontakte. Ende vergangener Woche hat sie sich zum ersten Mal sozusagen analog getroffen und ihre Arbeit in der Öffentlichkeit diskutiert. Anlass war die Eröffnung einer Anthropozän-Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt, der als "schwangere Auster" berühmt gewordenen früheren Kongresshalle neben dem Bundeskanzleramt.

Beton, Stahl und Glas: Selbst wenn Schanghai eines Tages zu Staub zerfallen und von Sedimenten bedeckt werden sollte, werden seine Spuren überdauern. (Foto: Johannes Eisele/AFP)

Zalasiewicz und seine Kollegen haben neben Aluminium und Kunststoff noch viele weitere Beispiele, woran man im Erdreich das Anthropozän erkennen kann. Der englische Geologe nennt noch die Bleiverbindungen aus dem früher verwendeten Benzin und die Spitzen von Kugelschreibern, die oft aus der äußerst beständigen Keramik Wolframkarbid gefertigt sind. Und Ziegel, von denen jedes Jahr 1,3 Billionen Stück gebrannt würden. Und natürlich Beton, von dem die Menschheit inzwischen fast 500 Milliarden Tonnen produziert habe, fast alles seit dem Jahr 1950.

Auch in der Landschaft lassen sich die Spuren überall finden. Allein in den USA gebe es 568 000 aufgegebene Bergwerke, sagt James Syvitski von University of Colorado in Boulder, "und auf der ganzen Welt sind es vermutlich zehnmal so viele". Kohle- und Eisenerzminen sowie die Produktionsstätten von Kalkstein als Rohstoff für Zement wälzten zurzeit 13 Milliarden Tonnen Erdreich pro Jahr um, das entspreche 32 chinesischen Mauern oder dem Sedimenttransport aller Flüsse der Welt. Die Menschheit habe 48 000 große Staudämme mit 45 Metern Höhe oder mehr gebaut. Sie helfen den Anwohnern zwar, saubere Energie zu erzeugen und ihren Wasserbedarf zu regeln. Aber sie unterbrechen den natürlichen Transport der Sedimente. Das führe dazu, dass viele Flussdeltas absinken. "Die Städte dort senken sich oft viermal so schnell wie gleichzeitig der Meeresspiegel durch den Klimawandel steigt."

"Es hat gerade erst begonnen, und die größten Veränderungen stehen uns noch bevor."

Für Mark Williams , ebenfalls aus Leicester, lassen sich die Veränderungen der jüngsten Zeit mit denen einer der wichtigsten Epochen der Erdgeschichte vergleichen: der kambrischen Explosion. Damals, vor 540 Millionen Jahren, tauchten plötzlich Dutzende neuer Stämme von Lebewesen auf, von denen viele die Urahnen heutiger Tiere wurden. "Einige von ihnen fingen an, Erdlöcher zu graben. Wir finden Spuren ihrer Wohnungen, ihrer Mobilität, ihrer Ernährung, ihrer Ausscheidungen." Die Menschheit baute das alles um Größenordnungen ausladender: Hochhäuser, Untergrundbahnhöfe, Häfen, Minen und die Becken von Kläranlagen, oft dutzendweise zur Matrix angeordnet.

Für eine klare Definition des Anthropozäns aber versuchen die Forscher der Arbeitsgruppe ein eindeutiges Merkmal zu identifizieren, das auch weit jenseits der Ballungsräume den Anfang des Zeitalters markiert. Für Colin Waters vom britischen geologischen Dienst ist das der Niederschlag von Plutonium aus den oberirdischen Atombombentests zwischen 1952 und 1963. Das strahlende Material wurde von den Höhenwinden über die Erde verteilt, vor allem über die mittleren Breiten beidseits des Äquators. Deswegen lässt es sich zum Beispiel in den Sedimenten des Lake Victoria in Australien nachweisen. In einer Tiefe von 80 Zentimeter findet sich der erste Eintrag, 20 Zentimeter darüber liegt die Schicht von 1963 mit dem maximalen Ausstoß. Da Plutonium-239 eine Halbwertszeit von etwa 24 000 Jahren besitzt, wird sich die Grenze auch in 100 000 Jahren noch problemlos nachweisen lassen.

Ein weiterer Marker könnte die plötzliche Veränderung im Verhältnis der beiden Kohlenstoff-Isotope C-12 und C-13 sein. Das schwerere der beiden macht etwa ein Prozent in der Atmosphäre aus. Es ist aber seit 1750 um gut messbare 1,5 Promill-Punkte seltener geworden, und diese Entwicklung hat sich seit 1950 beschleunigt. Der Grund ist, dass die Menschheit begonnen hat, innerhalb von Jahrzehnten fossile Energieträger wie Kohle und später Öl und Gas zu verbrennen, die sich in Jahrmillionen gebildet hatten und in C-13 abgereichert waren.

Bernd Scherer, Leiter des Hauses der Kulturen der Welt, ist sich angesichts dieser vielen Veränderungen sicher, dass sich "die Menschheit bereits in die Erdgeschichte schreibt". Das Anthropozän sei dabei ein "Paradigma, um den Wandel in verschiedenen Bereichen zu verstehen". Doch bis das neue Erdzeitalter von einem kulturellen Konzept zu einem wissenschaftlichen Begriff wird, müssen seine Verfechter noch viele Hürden überwinden.

"Vom Anthropozän mit seinen vielen negativen Effekten zu sprechen, fordert den Fortschrittsbegriff heraus, der in vielen Gesellschaften fest verankert ist", sagt Naomi Oreskes. Dieser Glaube hatte womöglich schon einen der ersten Geologen behindert, der sich mit dem Einfluss der Menschheit auf die Erde befasste. "Man as a geological agent", nannte der britische Geologe Robert Sherlock 1924 sein Buch, in dem er den Menschen zum Akteur der Geologie machte. "Er glaubte allerdings, der Einfluss des Menschen sei nicht konsistent in seiner Richtung", sagt Oreskes. "Das sehen wir heute anders: Es spricht viel dafür, dass er in Summe negativ ist."

Wissenschaftlich dürfte die Diskussion noch recht lange dauern, sagt Jan Zalasiewicz. "Was auch immer da begonnen hat, es hat gerade erst begonnen, und die größten Veränderungen stehen uns noch bevor." Gut möglich, dass seine Fachkollegen es deswegen als voreilig empfinden, ein neues Zeitalter auszurufen. Die Arbeitsgruppe des Geologen aus Leicester plant jedenfalls, zu einer Konferenz in London 2016 einen Bericht vorzulegen, der dann seinen Weg durch die Instanzen der Kommission für Stratigrafie nehmen muss. "Früher hat so etwas oft Jahrzehnte gedauert", sagt Zalasiewicz mit einem ironischen Lächeln.

© SZ vom 21.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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