Südwestlich von Austin, Texas, liegt ein Leichengarten in der Wildnis. In der feuchten, subtropischen Luft verrotten dort langsam menschliche Körper. Ihre einstmaligen Besitzer haben die sterblichen Überreste nach dem Ableben der Wissenschaft gespendet. Forscher der Texas State University beobachten auf dem "Body Farm" genannten Forschungsgelände, wie schnell sich Körper nach dem Tod zersetzen und welche Lebewesen von den Überresten zehren.
Üblicherweise lassen sich zuerst Geier auf den Leichen blicken, auch Füchse, Opossums, Kojoten und kleinere Nagetiere sind schnell zur Stelle. Kürzlich beobachteten die Forscher jedoch mit einer Kamerafalle einen ungewöhnlichen Gast: Ein Hirsch näherte sich einem bereits stark verwesten Körper und begann, von den Knochen der Rippen zu fressen. Es sei das erste Mal, dass man ein Huftier dabei beobachtet habe, die Knochen eines Menschen anzunagen, berichten die Wissenschaftler im Fachblatt Journal of Forensic Sciences.
Den Fall beschreiben die Forscher so: Etwa ein halbes Jahr nach Eintritt des Todes, nachdem von dem Körper fast nur noch Knochen übrig waren, besuchte ein weiterer Hirsch den Schauplatz. Das weibliche Exemplar von der in den USA weitverbreiteten Art Weißwedelhirsch zog aber weiter. Wenige Tage später fotografierte die versteckte Kamera jedoch einen weiteren weiblichen Weißwedelhirsch dabei, wie er auf einem Rippenknochen herumkaute, wobei das Knochenstück "aus der Seite des Mundes ragte wie eine Zigarre", wie die Forscher in ihrer Fallstudie schreiben. Auch ein zweiter Hirsch wurde wenig später beim Leichenfleddern erwischt.
Sechs "Body Farms" gibt es in den USA. Dort verwesen Körper unter wissenschaftlicher Aufsicht
Diese Art Forschung erscheint makaber, ist jedoch äußerst wichtig, um die Aufklärung von Kriminalfällen zu erleichtern. Wenn eine Leiche irgendwo entdeckt wird, müssen Rechtsmediziner möglichst genau klären, zu welchem Zeitpunkt ein Mensch gestorben ist, und natürlich an welcher Ursache. Finden sich Spuren von Gewalteinwirkung an dem Körper einer Wanderin, könnte sie Opfer eines Gewaltverbrechens geworden sein - oder sie hatte in der Wildnis einen Herzinfarkt und wurde anschließend zur Mahlzeit eines Kojoten. Auch der Zeitpunkt des Todes ist für Kriminalisten eine wichtige Information, beispielsweise um sie mit dem Alibi von Verdächtigen abzugleichen.
Daher gibt es mittlerweile sechs "Body Farms", alle in den USA gelegen: Dort versuchen Forensiker, gewissermaßen kontrollierte Versuchsbedingungen herzustellen, um den Verwesungsprozess zu studieren. In allen Einzelheiten beschreiben sie daher auch die Spuren, der Hirsch am Knochen hinterlassen hat.
Rätselhaft ist bislang, warum der Weißwedelhirsch die menschlichen Überreste so schmackhaft gefunden hat. Hirsche sind reine Pflanzenfresser und halten sich von Aas meist fern. "Rehe sind keine Kannibalen", sagt Andreas König, Wildbiologe an der Technischen Universität München. "Das Tier könnte an einem Kalkmangel gelitten haben, das wäre plausibel." Auch von anderen Wildtieren sei bekannt, dass sie Knochen von verendeten Tieren verspeisen, um ihren Kalziumbedarf zu decken. Von der Beobachtung in den USA ist König dennoch überrascht: "Es ist nicht so, dass man so etwas permanent beobachtet." Hirsche könnten ihren Nährstoffbedarf üblicherweise aus pflanzlicher Nahrung ausreichend stillen.
Auch das Team um Lauren Meckel von der Texas State University, das den Fall beschreibt, hält einen Mangel von Mineralstoffen wie Kalzium, Phosphor und Natrium für die plausibelste Erklärung für das Verhalten. Der Fall zeige, dass Hirsche wohl häufiger Aas fräßen als gedacht.