Evolution:Mücken in der U-Bahn

Lesezeit: 4 min

Nicht nur Menschen haben sich an die Hektik der Stadt gewöhnt. Auch Tiere passen sich immer besser an. Das verändert die Evolutionsdynamik.

Von Judith Blage

Keine Frage, die Stadt ist ein extremer Lebensraum. Die Luft ist schlecht, es ist laut und so gut wie immer etwas los. Nachts sieht es nicht viel besser aus: So eine Stadt kommt eigentlich nie zur Ruhe. Nur macht sie das automatisch zu einem lebensfeindlichen Ort?

Der Ökologe und Evolutionsbiologe Menno Schilthuizen vertritt exakt die gegenteilige These: Die Stadt ist der neue Motor der Evolution. So wie er glauben immer mehr Forscher, dass wir in den Großstädten gerade einer beeindruckenden Entwicklung zusehen können - der Entstehung neuer Arten im Schnelldurchlauf.

Schilthuizen hat eine Reihe erstaunlicher Beispiele für die Anpassung von Tieren und Pflanzen an das Stadtleben zusammengetragen. Er selbst erforscht die Evolution zurzeit am Naturalis Biodiversitätszentrum im niederländischen Leiden am Beispiel der Schnirkelschnecke - ein so allgegenwärtiges Tier, dass man es in Europa beinahe an jeder Ecke und inzwischen auch in Übersee vorfindet. Um Cepaea nemoralis zu untersuchen, musste Schilthuizen nicht einmal sein Grundstück verlassen. Die Weichtiere fraßen ihm immer wieder die Zierpflanzen in seinem Vorgarten weg. Also pulte er sie sorgsam von den Ästen und bemerkte ihre seltsame Farbe. "Die Häuser der Schnirkelschnecken in meinem Garten sind fahlgelb mit ein paar dunklen Streifen darauf. Normalerweise sind sie rötlich bis dunkelbraun."

Zu der sonderbaren Farbe hat Schilthuizen eine eigene Hypothese entwickelt. Er glaubt, dass die Schnirkelschnecke in der Stadt ein helleres Haus auf dem Rücken trägt als in ländlichen Regionen, weil es in den Städten heißer ist. "Die Gebäude und Straßen in der Stadt absorbieren die Hitze der Sonne, die vielen Menschen und ihre Maschinen steuern ihre Wärme dazu bei. Dies führt dazu, dass die Durchschnittstemperatur in mittleren Städten zwei bis drei Grad höher liegt, als dies in den umliegenden Regionen der Fall ist", schreibt er.

In Megacitys wie New York oder Tokio kann der Temperaturunterschied zum Umland mehr als zehn Grad betragen. Schnirkelschnecken mögen Hitze und Trockenheit nicht besonders, sie verharren dann wochenlang in einer Art Starre. "Kommen dann noch ein paar Grad Hitze hinzu, kann es für sie tödlich werden. Also überleben mehr Schnecken mit einem hellen Haus, weil es weniger Hitze absorbiert."

Ein Beispiel für eine ganz neue Art ist Culex molestus, die Londoner U-Bahn-Mücke. Das lästige Insekt - denn nichts anderes bedeutet die Übersetzung von molestus - hat sich offenbar zügig nach der Eröffnung der London Underground im Jahr 1863 entwickelt. Es unterscheidet sich genetisch deutlich von seinen oberirdischen Verwandten. So deutlich, dass sich zwei jeweilige Exemplare nicht mehr miteinander fortpflanzen können - in der Biologie der klassische Beweis, dass eine neue Art entstanden ist. Doch die Unterschiede liegen nicht nur in der Genetik: Die oberirdischen Verwandten leben von Vogelblut und halten Winterschlaf. Die Bahnmücke ist zu jeder Jahreszeit putzmunter und hat mit Vögeln nichts zu schaffen. Kein Wunder, schließlich wird sie in den U-Bahntunneln waggonweise mit frischem Pendlerblut versorgt und muss für die Suche nach einem Mittagessen nicht viel herumfliegen. Aus diesem Grund entwickeln sich sogar die Stechmücken der einzelnen Linien unabhängig voneinander. So unterscheiden sich die Mücken der Bakerloo- und der Victoria-Linie deutlich in ihren Erbgutmerkmalen. "Da sie ja ihre Tunnel nie verlassen, müssten sie am Oxford Circus umsteigen, um sich mit den Bewohnern anderer Linien zu paaren", sagt Katharine Byrne von der University of London, die Culex molestus untersucht hat.

Krähenschwärme, wie hier im Englischen Garten in München, nehmen die wenigsten noch zur Kenntnis. Gleiches gilt wohl umgekehrt: Auch die Tiere haben sich schon länger an die vielen Menschen gewöhnt. (Foto: Frank Leonhardt/dpa)

Die Stadt als Lebensraum bringt aber nicht nur Unterschiede hervor, sondern auch globale Gemeinsamkeiten. "Eine Großstadt ist eine Großstadt, egal ob sie in Australien, Europa oder Asien liegt", sagt der kanadische Ökologe Marc Johnson. Er war einer der ersten Forscher überhaupt, der die urbane Evolution entdeckte, und ist heute einer der führenden Vertreter des Fachgebiets. Dabei ging es ihm als junger Biologe wie fast allen seiner Kollegen: "Ich wollte natürlich Darwins Spuren folgen und auf den Galapagosinseln oder sonstwo in der Wildnis forschen. Der Grünstreifen neben einer Hauptverkehrsader erschien uns Biologen damals so gut wie tot." Doch dann bekam Johnson eine Stelle an der Universität von Toronto und entdeckte, dass spannende Forschungsfragen direkt vor seiner Haustür lagen - und zwar in Form einer höchst unspektakulären Pflanze, die eigentlich jedes Kind schon einmal zwischen den Fingern zerrupft hat: Weißklee.

"Weißklee wächst an Orten, an denen gemäßigtes Klima herrscht", sagt Johnson. Nur hat der Weißklee in den Städten weltweit eine Gemeinsamkeit, die ihn von dem Weißklee auf dem Land unterscheidet: "Die Pflanzen enthalten hier viel weniger Cyanwasserstoff, der sie vor Fressfeinden schützt." Genau das helfe dem Klee aber, mit den klimatischen Bedingungen der Stadt zurechtzukommen. Um das zu beweisen, ließ der Ökologe in mehr als 190 Städten Kleepflänzchen pflücken. So stellte sich heraus, dass sich die Pflanze überall auf dieselbe Art und Weise an das städtische Klima anpasst. Zwei Städte auf verschiedenen Kontinenten können sich so gesehen ähnlicher sein als eine Stadt und die ländliche Region um sie herum.

Dass Tiere und Pflanzen sich genetisch und in ihrem Verhalten an ihren Lebensraum anpassen, ist das Wesen der Evolution. Doch Städte scheinen eine Art Turboeffekt auszulösen. Charles Darwin selbst war noch davon überzeugt, dass für die Veränderung vererbbarer Merkmale Äonen ablaufen müssen: "Wir sehen nichts von diesen langsam fortschreitenden Veränderungen, bis die Hand der Zeit auf eine abgelaufene Weltperiode hindeutet", schrieb er. Seit 20 Jahren mehren sich aber die Hinweise, dass sich Arten weitaus zügiger verändern, nämlich in weniger als zwei Generationen. Erst kürzlich wertete eine amerikanische Forschergruppe der Universität Washington mehr als 1600 Einzelstudien aus. Die Forscher kamen zu dem Ergebnis, dass die Verstädterung der Umwelt die Geschwindigkeit der Evolution erhöht - in manchen Fällen sogar verdoppelt.

Dass sie in der Stadt so rasend schnell abläuft, liegt laut Schilthuizen an dem enormen Evolutionsdruck, den das Leben dort verursacht. Zu der Hitze in urbaner Umwelt kommen Faktoren wie Lärm, Verkehr und die Verschmutzung mit verschiedenen Chemikalien hinzu. Auch an neue biologische Gegebenheiten muss sich das urbane Leben anpassen: "Die Menschen in den Städten besitzen exotische Pflanzen und Haustiere, bringen Samen und Larven aus fremden Ländern mit", sagt der Evolutionsbiologe. Wer in dieser wilden Gemengelage nicht miteinander auskommt und sich anpasst, stirbt schnell aus.

Schilthuizen vergleicht die Stadt deshalb gerne mit einem Schnellkochtopf. Nur dass er dabei nicht an Essen denkt, das nun schneller zubereitet wird. Sondern an die Evolution.

© SZ vom 10.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: